Opfertod
oder aber der unerwartete Besuch ihrer Zwillingsschwester, die nach Jahren der Funkstille plötzlich mit einem Koffer vor ihrer Tür stand.
Tamara grinste. »Begrüßt man so seine einzige Schwester?«
Lena gab sich alle Mühe, ihre Anspannung zu verbergen. »Wo kommst du denn jetzt plötzlich her?«
Seufzend hob Tamara die Schultern. »Von überall und nirgendwo.«
»Und wie lange stehst du schon hier?«
»Keine Ahnung, noch nicht sehr lange. Hab Licht gesehen und dachte, du wärst zu Hause.« Sie lachte spöttisch. »Aber offenbar lässt du noch immer das Licht brennen, wenn du aus dem Haus gehst, was?«
Lena schluckte den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, hinunter. Sie staunte nicht schlecht, als Tamara näher trat und sie im Mondschein ein in eine Decke eingewickeltes Baby im Arm ihrer Schwester sah. Rasch schloss Lena auf und ließ Tamara mit dem Baby herein. Tamara hatte einen kurzen Jeansrock an und ein bauchfreies gelbes Top, das aus dem Kleiderschrank von Rebecca Brandt hätte stammen können. Darüber trug sie nur einen dünnen Blouson. Ihre schulterlangen Haare waren verfilzt, und sie wirkte noch verlotterter, als Lena sie in Erinnerung hatte.
»Es ist ein Junge, er heißt Marcel«, sagte Tamara stolz.
»Ein schöner Name«, meinte Lena und schaute den Kleinen liebevoll an, ehe sie zu ihrer Schwester aufsah. »Tamara, so leid es mir tut – aber ihr könnt hier nicht …« – »Willste mal halten?«, fiel ihr Tamara ins Wort und gab ihr behutsam den Säugling.
Kaum hatte Lena das Baby im Arm, spürte sie, wie die enorme Anspannung kurzzeitig ein wenig nachließ und sie ein warmes Gefühl durchzog. Sie betrachtete die winzigen Hände. Das engelsgleiche Gesicht. Alles an ihm war so zerbrechlich und schutzbedürftig. Sie streichelte ihm mit der Hand zärtlich über den Kopf. Über die weichen Babyhaare. Der Kleine schlug blinzelnd die verschlafenen Augen auf. Er lächelte Lena an und begann, unter der Decke zu strampeln. Er war ein freundliches Kind, und Lena hatte den Zwerg sofort ins Herz geschlossen. Kinder hatten diese Wirkung auf sie, und es war immer schon ihr Traum gewesen, eines Tages eine eigene Familie zu gründen. Mit mindestens zwei oder drei Kindern. Doch das Schicksal hatte einen anderen Lebensweg für sie vorgesehen. Und die traurige Wahrheit war, dass sie durch ihren Job so gut wie nie mit Kindern in Kontakt kam. Und falls doch, nicht mit lebendigen.
»Ich hatte die Schnauze voll und dachte, ich schau mal, was in Berlin so los ist«, erzählte Tamara und strich sich mit einer unkontrollierten Bewegung ihren langen Pony aus der Stirn. »In der Wäscherei hab ich hingeworfen, mein Chef war ein Arschloch.«
Lena starrte sie wortlos an und senkte ihren Blick wieder auf das Baby.
»Nun schau nicht so, ich find schon was Neues. Kennst mich doch …«, sagte Tamara und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wohnungstür.
»Und was ist das?«, fragte Lena mit einem vorwurfsvollen Blick auf das blaugrüne Hämatom, das sich auf Tamaras Stirn abzeichnete und das sie bis eben mit ihrem Pony kaschiert hatte. »Hast du schon vergessen, was ich damals wegen solchen Typen für dich durchgestanden habe?«
»Was denn? Ich bin die Treppe runtergefallen. Wenn man zu dumm zum Laufen ist, bleibt so was nicht aus.«
Lena funkelte sie nur wütend an.
»Na schön, du hast gewonnen«, gab sich Tamara geschlagen, während sie vor dem Garderobenspiegel ihren Pony zurechtzupfte. »Was soll ich denn machen? Diesen Scheißkerlen steht ja nicht auf der Stirn geschrieben, ob sie Frauen schlagen – aber glaub mir, noch mal falle ich bestimmt nicht auf solche Typen rein.«
Das hast du bisher noch jedes Mal behauptet , dachte Lena und unterdrückte einen Seufzer. Irgendwie tat sie ihr ja leid. »Wo hast du eigentlich Fabienne gelassen?« Fabienne war Tamaras inzwischen achtjährige Tochter. Da Tamara vor der Schwangerschaft mit mehreren Männern intim gewesen war, war der Vater des Mädchens bis heute unbekannt. Und angesichts der Tatsache, dass bei keinem der Männer etwas »zu holen war«, hatte sie auf einen Vaterschaftstest verzichtet. Die Frage nach dem Vater des kleinen Marcel sparte Lena sich daher von vornherein.
»Die ist bei ’ner Freundin.«
»Und bei welcher Freundin?« Lena klang misstrauisch.
Trotzig schaute Tamara auf ihre Hände. »Kennst du nicht.«
Lena glaubte ihr kein Wort. »Sag jetzt bitte nicht, du hast Fabienne wieder zu Cindy gebracht.«
»Warum denn nicht …
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