Opfertod
und stellte sich mit dem Rücken zur Wand neben die Tür. Sekundenlang stand er ganz still und horchte. Als ihm klarwurde, dass die Stimme aus der entgegengesetzten Richtung kam, fiel ihm die schmale Tür ins Auge, die sich halb verdeckt hinter einem staubigen Schrank befand. Gemmy ging darauf zu und legte sein Ohr an die Tür. Im Hintergrund ertönte eine Oper, während er Artifex’ Stimme vernahm. Es klang, als ob er auf jemanden einredete. Mit wem zum Teufel spricht der Spinner da? Er beugte sich zum Schlüsselloch hinunter und sah, dass Artifex sich mit jemandem unterhielt, der sich außerhalb seines Sichtfelds befand. Gemmy platzte beinahe vor Neugier und musste sich förmlich zwingen, sich nicht zu erkennen zu geben. Erst als Artifex einige Zeit später wieder verstummt war und von draußen das schon vertraute Motorengeräusch des Lieferwagens erklang, stemmte Gemmy sich mit der Schulter gegen den Schrank und schob diesen mit seiner ganzen Kraft beiseite. Dann öffnete er die Tür zum angrenzenden Raum. Es war stockdunkel, und sofort schlug ihm ein kaum auszuhaltender Gestank entgegen. Gemmy tastete nach dem Schalter und machte Licht. Ein mit kitschigen Sofas und bunter Fototapete eingerichteter Raum lag vor ihm. Mein Gott! Er musste zweimal hinsehen, um zu begreifen, was da, umringt von altmodischen Tüllröcken, Porzellanpuppen und unzähligen Notenblättern, auf dem Bett lag. Wie von selbst taumelten Gemmys Beine einige Schritte zurück. Luft! Er brauchte frische Luft! Schnell! Die Hände vor den Mund geschlagen, als müsse er würgen, hastete er den schmalen Gang zurück, um auf dem schnellsten Weg zurück ins Freie zu gelangen.
Doch als er die schwere Metalltür endlich erreichte, stellte er fest, dass sie verschlossen war.
50
Edinburgh, Schottland,
am Nachmittag desselben Tages
Müde von einer viel zu kurzen Nacht und der nicht enden wollenden Reise, saß Lena inzwischen im Shuttlebus, der die in Edinburgh landenden Passagiere vom Flughafen in die Innenstadt brachte. Der Bus war randvoll mit Fahrgästen, die Luft war verbraucht und unangenehm stickig, als habe die Klimaanlage den Dienst aufgegeben. Lena hatte einen der wenigen Plätze an einem Vierertisch ergattert und ihre Reisetasche unter dem Sitz verstaut. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Vereinzelte Regentropfen rannen quer über die Scheibe, während Lena über Bellings Worte in Bezug auf Lukas nachdachte. Was, wenn der ehemalige Kommissar recht behalten sollte und diese ganze Aktion pure Zeitverschwendung war? Unfreiwillig wanderten ihre Augen zu den Fahrgästen, die dicht gedrängt auf dem Gang standen. Zu dem finster dreinblickenden Mann neben der Tür, der nervös an seinen Nägeln kaute. Zu dem Tätowierten mit der Baseballkappe, der gerade dabei war, eine SMS in sein Handy zu tippen. Hatte Artifex sie von diesem Telefon aus angerufen? Zu dem Blonden im Anzug, der sein Gesicht hinter einer schwarzen Sonnenbrille verbarg und seine Reisetasche keine Sekunde aus den Augen ließ. Als er bemerkte, dass sie ihn anstarrte, wandte sie verstohlen den Blick ab. Lena Peters, reiß dich verdammt noch mal zusammen! Lena zwang sich, an etwas anderes zu denken, und rieb sich die brennenden Augen. Sie hatte gehofft, auf dem Flug ein wenig Schlaf nachholen zu können, doch ihre innere Unruhe war so stark gewesen, dass sie kein Auge zugetan hatte. Sie führte die Wasserflasche erneut zum Mund und betrachtete beiläufig das junge Pärchen, das ihr gegenüber engumschlugen vor sich hin döste. Die Zärtlichkeit und die Vertrautheit, die die beiden verband, rief kurzzeitig die Erinnerung an Matthias in ihr wach. Bis heute war er der einzige Mann gewesen, dem sie im ihr möglichen Maß vertraut hatte. Im Nachhinein hatte er ihr oft vorgeworfen, sie hätte ihn zu leichtfertig gehen lassen, und Lena hatte einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, weshalb er recht hatte. Unwillkürlich dachte sie an ihre letzte, zufällige Begegnung vor etwas über einem Jahr auf dem Campus der Universität Köln. Lena hatte an jenem Tag einen Vortrag über angewandte Kriminologie gehalten, als sie Matthias im Aufzug getroffen hatte. Matthias, ein intelligenter, freundlicher Lockenkopf mit kleinen Grübchen, hatte soeben sein neues Förderprogramm für Psychologiestudenten vorgestellt. Lena war überaus erfreut gewesen, ihn zu sehen, auch wenn sie seine Einladung, auf die Schnelle noch einen Kaffee trinken zu gehen, voreilig
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