Opfertod
ausgeschlagen hatte. Matthias hatte enttäuscht gewirkt. »Warum lässt du eigentlich niemanden an dich ran?«, hatte er daraufhin gefragt, kaum dass sich die Türen des Aufzugs geschlossen hatten. Die Frage war für Lena aus heiterem Himmel gekommen. »Wieso? Tu ich doch!«, hatte sie geantwortet, die Hände in den Hosentaschen ihrer Jeans vergraben und den Blick verlegen auf die Stockwerkanzeige gerichtet.
»Ach ja?«
»Ja.«
Matthias hatte nur geschmunzelt, und für eine Weile hatte ein seltsames Schweigen zwischen ihnen gestanden.
»Es ist wegen deiner Eltern, habe ich recht?«, hatte er dann gefragt. »Du bist stinksauer auf sie.«
Lena war entsetzt gewesen. »Meine Eltern sind tot, Matthias – das weißt du doch.«
Aber Matthias hatte nur mit den Achseln gezuckt. »Deswegen ja. Das Kind in dir nimmt ihnen heute noch übel, dass sie bei diesem furchtbaren Autounfall ums Leben gekommen sind und deine Schwester und dich von heute auf morgen verlassen haben. Und die Erwachsene in dir lässt sich schon gar nicht mehr mit irgendwem ein. Denn dann würdest du ja riskieren, wieder verlassen zu werden.« Er hatte nur den Kopf geschüttelt und auf seine Schuhe gesehen. »Nein, nein – du bleibst lieber allein, stürzt dich in die Arbeit und redest dir ein, auf diese Art glücklich zu sein …«
Lena hatte ihre Lippen bewegt, um etwas entgegenzusetzen, aber plötzlich das Gefühl gehabt, in diesem Aufzug zu ersticken.
»Aber natürlich weiß das unsere gefeierte Kriminalpsychologin ja selbst, nicht wahr?«, hatte Matthias hinzugefügt. Im selben Moment hatten sich die Türen des Aufzugs im Erdgeschoss geöffnet. Matthias hatte ihr noch flüchtig zugenickt, ehe er als Erster aus dem Aufzug getreten war. Fassungslos hatte Lena ihm mit Tränen in den Augen nachgeschaut.
Noch heute erinnerte sie sich an die unglaubliche Wut, die sie in diesem Moment im Bauch gehabt hatte. Mittlerweile war Lena klar, dass Matthias mit seiner Einschätzung richtiggelegen hatte. Nicht zuletzt waren es ihre eigene Verschlossenheit und die Unfähigkeit, ihre Gefühle für Matthias zum Ausdruck zu bringen, gewesen, wegen denen ihre Beziehung in die Brüche gegangen war. Inzwischen war ihr zu Ohren gekommen, dass Matthias glücklich verheiratet war, eine gutgehende Praxis als Kinderpsychologe in der Kölner Innenstadt unterhielt und eine kleine Tochter hatte.
Ihren Gedanken nachhängend, richtete Lena den Blick wieder aus dem Fenster. Sie hatte ihre Chance auf ihr eigenes Familienglück vertan. Doch wenn es etwas gab, worin ihr niemand den Rang streitig machte, dann waren es ihre begnadeten Fähigkeiten als Profilerin. Umso wichtiger war es, jetzt keinesfalls zu scheitern und alles daranzusetzen, diesen Fall zu lösen. Sie würde Edinburgh nicht eher verlassen, bis Dr. Dobelli ihr Antworten auf ihre Fragen geliefert hatte.
51
Als Lena an der Waverley Station aus dem Bus stieg, ging es bereits auf sechzehn Uhr zu. Der Bahnhof lag im Herzen Edinburghs zwischen Old Town und New Town und gehörte zu den meistfrequentierten Bahnhöfen Schottlands. Dementsprechend geschäftiges Treiben herrschte unter dem alten Glaskuppeldach, und Lena hatte Mühe, sich in dem Menschengewirr zu orientieren. Sie ließ ihre verspannten Schultern kreisen und steuerte mit ihrer Reisetasche in der Hand auf die Touristeninformation am Ende der großen Bahnhofshalle zu. Lena stellte sich in die Schlange. Als sie an der Reihe war, schob sie der dicklichen, käsig aussehenden Dame am Schalter den Zettel mit der Anschrift des Eastfield-Sanatoriums über den Counter. Die Frau warf einen Blick auf den Zettel, sah wieder auf und betrachtete Lena einen Augenblick lang skeptisch, ehe sie die Adresse in ihren Computer eingab. Mit ausgeprägtem schottischem Akzent erklärte die Frau, das Sanatorium befinde sich etwas außerhalb, im Osten der Stadt. Keine Minute später spuckte ihr Drucker die Busverbindung samt Wegbeschreibung aus. Lena bedankte sich und machte sich auf den Weg.
52
Zur selben Zeit in Berlin
Gemmy rannte immer weiter. Er war eine halbe Ewigkeit durch Artifex’ unterirdische Werkstatt geirrt, ehe er durch ein Kellerfenster hatte entkommen können, und wollte jetzt nur weit weg von diesem unsäglichen Ort. Als er eine kleine Einkaufsstraße im nahe gelegenen Wohngebiet erreichte, stützte er sich vor einem Elektrogeschäft auf seinen Knien ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Was er in diesem Keller zu Gesicht bekommen hatte,
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