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Opfertod

Opfertod

Titel: Opfertod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanna Winter
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würde er sein Leben lang nicht vergessen. Er hatte Artifex unterschätzt und konnte nicht leugnen, dass ihm das schauerliche Szenario in gewisser Weise durchaus imponierte. Trotzdem schwor er sich, keinen Fuß mehr in diesen Keller zu setzen und Artifex vorerst auf Abstand zu halten. Gedankenversunken richtete Gemmy sich wieder auf und starrte auf die großformatigen Flachbildfernseher, die im Schaufenster standen und in denen der Kinotrailer des neuen Actionfilms mit Jeffrey Maloney lief. »Noch mehr Action, noch mehr Horror, noch mehr Gänsehaut …«, tönte es aus dem kleinen Außenlautsprecher, der oberhalb des Schaufensters angebracht war. Gemmy schüttelte nur den Kopf. Er wollte gerade weiterziehen, da fesselte ein Beitrag über eine ungelöste Mordserie seine Aufmerksamkeit. Gemmy blieb wie angewurzelt vor dem Schaufenster stehen. »Die Anzahl der grausam verstümmelten Mordopfer hat inzwischen rapide zugenommen, während die Polizei weiterhin im Dunkeln tappt.« Als das Bild einer gewissen Carmen Martinez eingeblendet wurde und in diesem Zusammenhang von einer amputierten Nase die Rede war, stockte Gemmy kurzzeitig der Atem. Der Gefrierbeutel in Artifex’ Eisfach! Mit steigender Nervosität starrte er weiter auf den Fernseher. Ausschnitte einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche erschienen auf der Bildfläche. Dann schwenkte die Kamera von der Reporterin auf einen etwas kurzgeratenen Mann, der als Leiter der Mordkommission vorgestellt wurde und vor den Journalisten in Richtung Polizeipräsidium flüchtete, ohne einen Kommentar abzugeben. Gemmys Miene gefror, als er schräg hinter dem Leiter der Mordkommission die junge Frau wiedererkannte, die er auf dem Foto in Artifex’ Keller gesehen hatte. Zweifellos handelte es sich dabei um ein und dieselbe Person. Gemmy überfiel ein Frösteln. Doch schon im nächsten Moment fuhren seine Mundwinkel in die Höhe. Gemmy hatte sich nie für besonders klug gehalten, doch beim Anblick dieser Frau kam ihm eine teuflische Idee.

53
Am späten Nachmittag in Edinburgh
    Nach einer längeren Fahrt mit der Eastcoast Main Line und einem gut fünfzehnminütigen Fußmarsch durch ein Waldstück erreichte Lena schließlich die Tore der Heilanstalt Eastfield. Der Himmel war wolkenverhangen und kündigte ein Unwetter an, als Lena auf das Pförtnerhäuschen zuging.
    »Guten Tag, Peters mein Name, ich bin hier, um mit einer Patientin zu sprechen, Dr. Dobelli«, sagte sie freundlich auf Englisch.
    Der Pförtner, ein älterer Herr mit aufgequollenem Gesicht, sah aus, als gehörte er schon immer zum Inventar. Er beäugte sie einen Moment lang missmutig. Seine Augen waren von einem dunklen, gräulichen Blau wie der Himmel über Edinburgh. »Sie wissen, dass die Besuchszeit bald endet?«
    Lena nickte und schenkte dem Pförtner ein höfliches Lächeln. Sie war müde. Sie könnte am nächsten Tag wiederkommen, mit Termin, doch sie wollte keine Zeit verlieren und hätte es nach der langen Reise als erniedrigend empfunden, jetzt nicht wenigstens kurz mit Dr. Dobelli gesprochen zu haben. Sie sah, wie die faltigen Hände des Mannes beim Schreiben zitterten, während er ihren Namen und ihre minutengenaue Ankunftszeit notierte. Ein Blick auf die Liste verriet Lena, dass sie an diesem Tag – sogar in dieser Woche – die einzige Besucherin des Sanatoriums war.
    »Miss, Ihre Tasche.« Der Alte erhob sich von seinem Stuhl und zeigte mit seinem Kugelschreiber auf die Reisetasche in Lenas Hand. »Ich muss Sie bitten, die Tasche hier abzugeben. So lauten die Vorschriften.« Er trat aus der Seitentür. Lena reichte ihm widerwillig ihre Reisetasche. Kurz darauf öffneten sich die Tore zum Klinikgelände. Aus den Augenwinkeln sah Lena noch, wie der Greis ihr mit grimmigem Gesicht hinterhersah und zum Telefon griff, während sie über einen Kiesweg auf das viktorianische Gebäude zulief. Davor standen jahrhundertealte Eichen, deren Wipfel bis weit über die mächtigen Säulen und das Mansardendach hinausragten. Zumindest äußerlich ähnelte das Gebäude eher einem alten Schloss als einem Sanatorium. Lediglich die vergitterten Fenster erinnerten daran, dass hier hinter verschlossenen Türen geisteskranke Menschen behandelt wurden. Lena war schon in vielen psychiatrischen Einrichtungen ein und aus gegangen, doch diese übte eine sonderbare Faszination auf sie aus, gerade so, als bargen diese Mauern ein uraltes Geheimnis. Auf den Treppen zum Eingangsportal wurde sie von einer alterslosen, streng

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