Opfertod
aussehenden Schwester mit einem Stapel Akten unter dem Arm in Empfang genommen. Lena war bewusst, dass sie noch nicht am Ziel war und ihr Gespräch mit Dobelli möglicherweise von dieser Schwester abhing.
»Guten Tag, ich bin Lena Peters, ich bin Kriminalpsychologin und würde Dr. Cornelia Dobelli gerne einige Fragen zu einer Mordserie stellen«, formulierte sie in Gedanken vor. Zu direkt!
»Guten Tag, ich bin Lena Peters, ich bin eine alte Freundin von Dr. Dobelli«, sagte sie schließlich und streckte ihr die Hand entgegen.
Die Schwester machte keine Anstalten, ihr die Hand zu geben, sondern musterte Lena. »Haben Sie einen Termin?«
Lena ließ die ausgestreckte Hand sinken und schenkte ihr ein höfliches Lächeln. »Nein, aber –«
»Dann tut es mir leid. Besucher werden grundsätzlich nur nach vorheriger Terminabsprache empfangen.«
»Hören Sie, ich bin extra aus Berlin angereist, um Cornelia Dobelli zu sehen. Es geht um eine dringende private Angelegenheit – um eine Erbschaft.« Lena wunderte sich über sich selbst, während die Worte nur so aus ihr heraussprudelten. »Es ist wirklich wichtig.« Und das war keine Lüge.
Die Schwester musterte sie kritisch. »Warten Sie hier«, sagte sie schließlich. Sie ließ Lena stehen und verschwand im Eingang des Gebäudes.
Mit verschränkten Armen blieb Lena auf dem Treppenabsatz stehen, stellte sich mit dem Rücken zum Eingang und ließ ihren Blick über den Stacheldrahtzaun schweifen, der das Klinikgelände umgab, als wenig später eine tiefe Stimme hinter ihr erklang.
»Sie wollten zu Dr. Dobelli?«
Lena wandte sich um, als sich ihr ein glattrasierter Mann mittleren Alters in dunklem Anzug und frisch gewichsten Lederschuhen näherte. Er stellte sich als Ronald Smith vor, Leiter der Klinik. Lena fragte sich, ob er alle Besucher des Sanatoriums persönlich in Empfang nahm oder aber ob das mit der Patientin Dobelli zu tun hatte. »Das ist richtig«, meinte sie und straffte sich.
Der Mann fuhr sich mit einer Hand durch die graumelierten Haare. »Sie sagten, Sie sind eine Freundin?«
»Ja.«
Er nickte. »In Ordnung, wenn Sie mir bitte folgen würden.« Smith lief vorneweg die Treppe hinab. »Dr. Dobelli ist im Haus Woodford untergebracht«, erklärte er, während Lena ihm über den Kiesweg um das Gebäude herum folgte. Vorbei an den Unterkünften des Personals liefen sie auf das große Backsteingebäude zu, das unweit eines kleinen Waldsees lag.
Im Haus Woodford angekommen, führte Smith sie durch eine elektrische Glastür über einen langen Flur, in dem der Geruch von Pfefferminztee und Essen lag. Am Ende des Gangs kam ihnen eine ältere Dame entgegen, die etwas vor sich hin brabbelte, was Lena nicht verstand. Lena wandte den Blick ab und folgte Smith in den beige getünchten Aufenthaltsraum, dessen Interieur aus kaum mehr als ein paar Stühlen, zwei Tischen und einem Fernseher bestand.
Ganz hinten am Fenster, das zum Park hinauszeigte, saß eine dunkelhaarige Frau in grauer Strickjacke. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt und las ein Buch.
Ronald Smith räusperte sich. »Dr. Dobelli – Besuch für Sie.«
Die Frau machte keinerlei Anstalten, sich zu ihnen umzudrehen. Lena gab ihr etwas Zeit. Sie schob die Hände in die Hosentaschen und blickte sich weiter um. Außer Dobelli befand sich im Aufenthaltsraum noch ein buckeliges Männchen, das um ein auf dem Tisch aufgebautes Schachspiel herumlief, den Zeigefinger angestrengt auf die Unterlippe gelegt. Der Mann hatte verschiedenfarbige Augen und grinste Lena an, während er sich in seinem schuppigen, rotgefleckten Gesicht kratzte. Symptome einer starken psychosomatischen Erkrankung , dachte Lena und konzentrierte sich wieder auf Dr. Dobelli. Als Lena auf sie zuging, fiel ihr sofort auf, dass sie das Buch falsch herum hielt. Dobelli selber schien dies offenbar nicht zu bemerken.
»Dr. Dobelli?«, versuchte es Lena erneut.
Nichts.
Mit einem höflichen Kopfnicken gab sie Ronald Smith zu verstehen, allein mit ihr sprechen zu wollen. Nach kurzem Zögern willigte dieser schließlich ein und entfernte sich. Lena stand jetzt schräg hinter Dr. Dobelli. »Guten Tag, ich bin Lena Peters, ich komme aus Berlin«, begann sie vorsichtig. »Ich bin …« – sie schlug verstohlen die Augen nieder – »… ich war Ihre Nachfolgerin bei der Mordkommission, wenn man so will«, erklärte sie freiheraus, davon ausgehend, dass der andere Patient sie nicht verstand. »Mir wurde der Fall entzogen, ehe ich richtig
Weitere Kostenlose Bücher