Opfertod
angefangen hatte«, räumte Lena ein.
Ganz langsam drehte die Frau sich zu ihr um. Aus ihren Recherchen wusste Lena, dass Dr. Cornelia Dobelli zweiundvierzig war. Doch die Frau, die vor ihr saß, wirkte mit den ausgemergelten Gesichtszügen weitaus älter. Ein grauer Streifen zeichnete sich am Ansatz ihrer schwarzgefärbten strähnigen Haare ab, die über ihre hageren Schultern fielen.
»Er wurde also noch immer nicht gefasst …«, sprach sie im Flüsterton und blickte mit einem nervösen Zucken am linken Auge zu Lena auf. »Vertrauen Sie mir, dass Ihnen dieser Fall entzogen wurde, ist das Beste, was Ihnen passieren konnte.«
Dr. Dobelli forschte in ihrem Blick. »Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«
Lena kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte, was sie darauf sagen sollte. Schließlich versuchte sie es mit der Wahrheit.
Dr. Dobelli blickte sie prüfend an. »Wer weiß außer Ihnen und diesem Lukas sonst noch, dass ich hier bin?«
»Niemand.«
Die Frau wirkte verängstigt. »Ganz sicher?«
Lena nickte ihr bestätigend zu, als sie die Narben an den Innenseiten von Dr. Dobellis Unterarmen bemerkte, die sich von den Bündchen der Strickjacke bis zu den Handgelenken erstreckten. Es waren Schnittverletzungen, wie Lena sie häufiger bei Missbrauchsopfern gesehen hatte, die das Ritzen mit Rasierklingen, Messern oder Scherben als Ventil nutzen, um sich von ihrem seelischen Schmerz abzulenken.
»Spielen wir eine Partie Schach!?«, rief der rotgesichtige Mann in die kurzzeitig entstandene Stille. Die Aufforderung galt Lena, deren Mundwinkel sich zu einem freundlichen Lächeln verzogen. »Ich fürchte, Sie müssen sich einen anderen Gegner suchen.« Doch der Mann blieb hartnäckig. Er sprang wie ein Flummi von einem Bein auf das andere und kratzte sich mit beiden Händen die Wangen. »Nur eine Partie! Wenn du’s schaffst, mich zu besiegen, erzähl ich dir alles, was ich weiß!«
Hellhörig geworden, fragte Lena an Dr. Dobelli gewandt: »Was meint er damit?«
»Hören Sie einfach nicht hin«, stöhnte Dr. Dobelli, »Numpy ist bloß langweilig, das ist alles – nicht wahr, Numpy?«
Er grinste. »Ich weiß was, was du nicht weißt …«, zischte er Lena zu.
Dr. Dobelli erhob sich. Und nach einem flüchtigen Blick über ihre Schulter sagte sie: »Kommen Sie, lassen Sie uns ein paar Schritte im Park gehen, dort können wir ungestört reden.«
54
Der weitläufige Park mit seinen Springbrunnen und den in Form geschnittenen Hecken wirkte gepflegt, und Lena fragte sich, ob die Patienten, die hier Tag für Tag ihre Runden drehten, ebenso sorgsam behandelt wurden. Am hinteren Ende grenzte das Gelände an einen umzäunten Waldsee, zu dem nur bestimmte Patienten Zugang hatten. Dr. Dobelli schien zu jener Gruppe von Patienten zu gehören, denn sie ging geradewegs darauf zu. »Inoffiziell verfolgen Sie den Fall also immer noch weiter«, kam sie wieder zum Thema zurück, nachdem sie die Pforte zum See passiert hatten, und Lena registrierte, dass sie die misstrauischen Blicke einiger Pfleger auf sich zogen. »Wenn Sie allerdings gekommen sind, um meine Einschätzung zum Täterprofil zu erfahren, muss ich Sie enttäuschen. Ich will mit diesem Fall nichts mehr zu tun haben!«
Lena biss sich auf die Lippe. Was sie gehört hatte, war die Stimme einer zutiefst verängstigten Frau, die rein gar nichts mit der Person gemein hatte, die Dr. Dobelli einst gewesen sein musste. Damit wollte Lena sich aber nicht zufriedengeben. »Dr. Dobelli, niemand ist mit den Wesenszügen des Täters so vertraut wie Sie«, redete Lena auf sie ein und wich ihr nicht von der Seite, während sie auf einen schmalen Bootssteg zugingen. »Wer oder was macht Ihnen so große Angst, dass Sie nicht über den Fall reden wollen?«
»Wie gesagt, ich fürchte, Ihre Reise nach Edinburgh hätten Sie sich sparen können!«
Lenas Kieferknochen mahlten. So schnell würde sie nicht aufgeben. Dr. Dobelli beschleunigte ihren Schritt, als wollte sie vor Lenas Fragen davonlaufen.
»Bitte, jetzt warten Sie doch!« Lena holte sie auf dem Steg ein und stellte sich ihr in den Weg. »Der Killer hat mich angerufen, neulich Nacht«, platzte sie schließlich heraus.
Wie vom Donner gerührt, hielt Dr. Dobelli inne. Lena sah ihr fest in die Augen, doch Dobellis Miene war unergründlich. Plötzlich veränderte sich etwas in ihrem Ausdruck, und das nervöse Zucken an ihrem Auge war wieder da. Auf einmal fasste sich Dr. Dobelli ans Herz. Ihr Gesicht wurde leichenblass. Sie
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