Opfertod
ließ Belling die Zeitung sinken und hob den Kopf. »Schon gehört? Unser Freund hat wieder zugeschlagen.« Er legte die Zeitung auf den Tresen und tippte mit dem Finger auf die Schlagzeile.
Lena nickte. »Habe auf dem Rückflug davon gelesen«, seufzte sie und rieb sich die Stirn. Die Tatsache, dass sie einen weiteren grausamen Mord nicht hatte verhindern können, setzte ihr weitaus mehr zu, als sie sich anmerken lassen wollte. Jedes weitere Mordopfer brannte sich ihr unwiderruflich ins Gedächtnis ein und spiegelte in ihren Augen ihr eigenes Versagen wider.
»Von offizieller Seite wurde lediglich bekanntgegeben, dass es sich um eine britische Touristin mittleren Alters handelt, die in den frühen Morgenstunden mit abgeschnittenen Brüsten im Monbijou-Park aufgefunden worden ist.« Kopfschüttelnd verzog er das Gesicht. »Die Brüste, das muss man sich mal vorstellen!«
Sie senkte den Blick auf die Zeitung und spürte, wie sich ihr bei dem Gedanken daran förmlich der Brustkorb zuschnürte.
»Ich hoffe, Sie kommen mit besseren Nachrichten aus Schottland zurück. Ich habe schon den ganzen Morgen versucht, Sie zu erreichen«, erzählte er und sah sie mit erwartungsvollen Augen an.
»Tja, das hätten Sie noch lange versuchen können«, antwortete sie und erzählte ihm von dem Überfall vergangene Nacht. »Ich kann von Glück reden, dass mein Reisepass und mein Rückflugticket nicht in der Reisetasche waren, sonst wären die auch weg gewesen.«
Belling stieß einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Waren Sie bei der Polizei?«
»Sicher, aber was bringt das schon? Dort habe ich nur das Gleiche zu hören bekommen wie alle Touristen auf dieser Welt: ›Wenn Ihre Tasche wieder auftauchen sollte, melden wir uns.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Ich könnte mich schwarzärgern. Immerhin war da neben meinem Handy und tausend anderen Sachen auch mein Notizbuch drin.«
Hellhörig geworden, hob Belling den Blick. »Ihr Notizbuch?« Er schob nachdenklich das stoppelige Kinn vor. »Haben Sie einmal in Erwägung gezogen, dass es möglicherweise kein Zufall war, dass Ihnen die Tasche geklaut wurde?«
Als Lena begriff, worauf er hinauswollte, schüttelte sie den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich«, sagte sie und hielt nach der Kellnerin Ausschau.
»Sagen Sie jetzt nicht, das ist alles, was Sie aus Edinburgh zu berichten haben.« Er klang hörbar beunruhigt.
Lena lächelte. »Keineswegs.« Sie berichtete ihm von ihrem Gespräch mit Dr. Dobelli. Und von dem Galeristen.
»Na, wenn das so ist, sollten wir diesem Oleg Semak schleunigst einen Besuch abstatten«, meinte Belling, nachdem Lena ihre Erzählung beendet hatte.
Sie grinste. »Schon geschehen.«
Ungläubig verzog er das Gesicht. »Sie sind dahin gefahren, ohne mir Bescheid zu sagen?«
»Wie denn, ohne Handy? Außerdem hatte ich ja Ihre Nummer darin gespeichert.«
»Auch wieder wahr.«
»Ich wollte keine Zeit verlieren. Also bin ich vom Flughafen direkt hingefahren«, erklärte sie und bestellte bei der vorbeieilenden Kellnerin, die sie vom letzten Mal kannte, einen Espresso. »Die Galerie liegt in der Nähe vom Kottbusser Tor. Sieht von außen betrachtet ziemlich heruntergekommen aus. Wer nicht explizit danach sucht, würde sich wohl kaum dorthin verlaufen.«
Ungeduldig blickte Belling sie an. »Und? Haben Sie diesem Semak auf den Zahn fühlen können?«
Sie verneinte. »Ich bin erst gar nicht in die Galerie hineingegangen.«
»Und wieso nicht, wo Sie doch extra hingefahren sind?«
Lena kniff die Augen zusammen. »Ich bin gerade darauf zugelaufen, da habe ich gesehen, wie ausgerechnet Volker Drescher in der Galerie verschwand.«
»Was sagen Sie da?!« Belling stützte seine Ellenbogen auf den Tresen und beugte sich zu ihr vor.
»Wie Sie sich sicher denken können, war ich ebenso verwundert wie Sie. Auf jeden Fall hielt ich es für klüger, es zu einem anderen Zeitpunkt zu versuchen.«
»Allerdings«, kommentierte Belling und schien einen Moment über ihre Worte nachzudenken. Eine kurze Pause entstand. »Ist schon alles ziemlich merkwürdig …«, murmelte Belling nach einer Weile.
Lena nickte. »Irgendwie schon …«
Dann sprach Wulf Belling jene Frage aus, die unausgesprochen zwischen ihnen in der Luft hing. »Was, wenn Drescher doch in der Sache mit drinsteckt?«
Lena kaute nachdenklich an ihrem Fingernagel. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht … Was, wenn er in dem Fall längst weiter ist als wir und er sich dort
Weitere Kostenlose Bücher