Opfertod
Ein kühler Windhauch schlug ihr entgegen und blähte den Stoff ihres Trenchcoats auf, während Lena versuchte, ihren Stadtplan auseinanderzufalten, um sicherzugehen, den richtigen Weg zur Pension eingeschlagen zu haben. Nach der Beschreibung auf der Website, über die sie das Zimmer gebucht hatte, durfte es nicht mehr weit sein. Als sie um die Ecke bog, rempelte sie um ein Haar einen Mann im Kilt an, der versteinert wie eine fleischgewordene Statue im Lichtkegel einer Straßenlaterne stand. Lena entschuldigte sich, warf ein paar Münzen in seine Büchse und lief hastig weiter. Weiter vorne liefen grölende Touristen, die in ihren Verkleidungen aussahen, als kämen sie gerade vom Fringe Festival. Während die Horde in Richtung des eindrucksvollen, bei Nacht angestrahlten Edinburgh Castle abbog, führte Lenas Weg zur Pension durch eine der unzähligen verwinkelten Gassen. Kurz dachte sie an all die Legenden und Geistergeschichten, die über Edinburghs düstere Gassen kursierten, musste im nächsten Moment aber über sich selbst lachen. Lena lief ein paar Stufen hinauf und bog in die nächste Gasse ab. Gerade hatte sie noch den Kopf geschüttelt, da hörte sie plötzlich Schritte hinter sich. Lena blieb stehen und blickte sich um. In der Gasse war alles still. Doch da war es auf einmal wieder: das unbestimmte Gefühl, verfolgt zu werden, das ihr seit dem Anruf des Killers wie ein Schatten folgte und das sie während ihres Besuchs bei Dr. Dobelli kurzzeitig verdrängt hatte. War er hier in Edinburgh? War er ihr aus dem Pub gefolgt? Überhastet lief sie über das Kopfsteinpflaster. Wer auch immer mir gefolgt ist, scheint sich wieder in Luft aufgelöst zu haben , dachte Lena, als sie am Ende der Gasse bereits den leuchtenden Schriftzug der Pension sah. Lena wollte gerade darauf zulaufen, als urplötzlich eine dunkle Gestalt aus einer Seitengasse gesprungen kam und ihr den Weg abschnitt. Wie erstarrt blieb Lena stehen und ballte die Fäuste, bereit, sich zur Wehr zu setzen, als der Mann mit unter der Kapuze verborgenem Gesicht blitzschnell auf sie zugeschossen kam. Er hatte es auf ihre Reisetasche abgesehen. In der Tasche waren all ihre Sachen, und Lena dachte gar nicht daran, ihm diese kampflos zu überlassen. Der Mann zerrte an ihrer Tasche, und ein heftiges Handgemenge entstand. Doch der Angreifer war Lena körperlich überlegen und versetzte ihr einen heftigen Faustschlag in die Magengrube. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Lena nur noch weiße Punkte, während sie sich nach Luft ringend vor Schmerz krümmte und den Mann mit ihrer Tasche davonlaufen sah.
60
Zu später Stunde in Berlin-Friedrichshain
Wulf Belling saß hinter dem Steuer seines Wagens und beobachtete, wie Marietta mit zwei finsteren Gestalten, die ganz gewiss keine Klassenkameraden waren, sondern wesentlich älter als sie aussahen, aus dem Mercedes stieg. Garantiert seid ihr Typen mir schon mal im Drogendezernat über den Weg gelaufen … Die drei liefen über das Gelände des ehemaligen Ostbahnhofs auf den mächtigen Betonklotz zu, in dem sich offenbar eine Diskothek befand. Sie zogen an der langen Schlange feierwütiger Nachtschwärmer vorbei und verschwanden nach einem kurzen Händeschütteln mit dem Türsteher im Innern der Diskothek. Wenn ihr meine Tochter da drin mit irgendwelchem Zeug vollpumpt, bringe ich euch eigenhändig um! Belling stellte den Motor ab und entschied, seine Tochter im Auge zu behalten. Er stieg aus und lief ebenfalls an der Schlange vorbei und steuerte zielstrebig auf den Eingang zu, als sich ihm der kräftige glatzköpfige Türsteher mit verschränkten Armen in den Weg stellte. »Hey, Opa, biste nicht ’n bisschen alt für die Disse?«
»Ich muss hier rein!«
Der Mann in der Bomberjacke lachte auf. »Da bist du wohl nicht der Einzige.« Mit einer ausladenden Handbewegung verwies er auf die Schlange.
»Ich bin nicht hier, um mich zu amüsieren.« Entschlossen hielt er seinen Dienstausweis in die Höhe. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Mit einem aufgesetzten, überfreundlichen Lächeln trat der Türsteher beiseite und ließ ihn passieren. Der alte Trick. Er funktioniert immer wieder , dachte Belling und betrat die bis zum Anschlag gefüllte Diskothek. Als er sich umsah, verließ ihn schlagartig alle Hoffnung, Marietta hier je wiederzufinden. Es war dunkel, und um ihn herum tanzten skurrile Kreaturen, die sich im Neonlicht wie Roboter bewegten. Und dann diese ohrenbetäubend hämmernde Musik. Es war ja nicht
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