Opfertod
so, dass er zu seiner Zeit nicht auch in Diskotheken gegangen wäre, doch die in Berlin vorherrschende Techno-Kultur war Belling fremd.
Außerdem war es so erdrückend eng und heiß, dass er das Gefühl hatte, seiner Lunge würde jeglicher Sauerstoff entzogen. Er kämpfte sich weiter durch die Menge vor, als er Marietta mit ihren zwielichtigen Begleitern entdeckte. Belling schärfte seinen Blick. Er wollte seinen Augen nicht trauen, als er just in diesem Moment sah, wie seine Tochter von einem der beiden Kerle eine Pille zu ihrem Drink gereicht bekam. Die Zeit stand sekundenlang still, ehe Belling wie ein Blitz und ohne weiter nachzudenken durch die ravende Menge stürmte. Marietta wollte sich die Pille gerade in den Mund werfen, da tauchte er wie aus dem Nichts vor ihr auf und schlug ihr die Tablette gerade noch rechtzeitig aus der Hand, so dass diese in hohem Bogen in die Menge flog.
»Papa!!« Marietta verzog das Gesicht und starrte ihn mit offenstehendem Mund an, als hätte sie einen Geist gesehen. »Ach du Scheiße! Was tust du denn hier?«
»Das sollte ich besser dich fragen!«, brüllte er gegen die Musik an. »Du hast mir hoch und heilig versprochen, du lässt die Finger von Drogen!«
»Tu ich auch!«
»Sie hat recht, Mann!«, schritt einer der beiden Kerle ein und streckte ihm wie zum Beweis eine Packung entgegen. Belling sah auf Schachtel. Aspirin. Für einen Augenblick trat das hämmernde Gedröhne in den Hintergrund, und Belling hörte nichts als das Blut, das jetzt durch seinen Kopf rauschte. Dann blickte er in die Gesichter von Mariettas Begleitern, die so aus der Nähe betrachtet zugegebenermaßen wesentlich jünger und möglicherweise doch nicht ganz so furchteinflößend aussahen wie gedacht. Wulf Belling wollte am liebsten im Erdboden versinken. Er sah seine Tochter mit hochrotem Kopf an und fühlte sich einmal mehr als Versager.
»Mein Gott, Papa – du bist so was von peinlich!«, blaffte Marietta ihn an und kehrte ihm nach einem hasserfüllten Blick den Rücken zu. Und noch während sie wutentbrannt in der Menge verschwand, taten die beiden Halbstarken seinen Auftritt mit einem mitleidigen Kopfschütteln ab.
»Passt lieber auf, dass ich euch nicht in die Zelle stecke, ich bin nämlich Polizist!«, trumpfte Belling auf. Jetzt kam er sich wirklich dämlich vor. Es war die pure Verzweiflung, die aus ihm gesprochen hatte. Und es war höchste Zeit zu gehen. Aufgewühlt bahnte sich Belling seinen Weg zurück zum Ausgang und verließ die Diskothek. Draußen angekommen, atmete er kräftig durch. Der Bass dröhnte noch immer in seinen Ohren, als er sich eilends eine Zigarette ansteckte und auf seinen Wagen zulief. Er war noch nicht weit gekommen, da erspähte er auf dem Parkplatz ein bekanntes Gesicht. Belling blieb stehen. Sieh einer an – wenn das nicht unser Anwaltssöhnchen ist! Ferdinand Roggendorf war allein und musste die Diskothek kurz vor ihm verlassen haben. Na warte, dieses Mal entwischst du mir nicht , sagte er sich, als er Roggendorf in einiger Entfernung in seinen dunklen Van steigen sah. Belling hastete zu seinem Peugeot, während Roggendorf seinen Wagen startete. Bei seinem Auto angekommen, musste er zu seinem Entsetzen jedoch feststellen, dass ihm der Halter eines anderen Wagens einen Strich durch die Rechnung machte. Er war zugeparkt worden! Und Roggendorf kurvte bereits vom Parkplatz. Belling schlug die Hände über dem Kopf zusammen und musste tatenlos mit ansehen, wie ihm Roggendorf abermals durch die Lappen ging.
61
Sonntagmittag, 15. Mai
Als Lena das Bacon ’n’ Cheese um kurz nach halb eins betrat, saß Wulf Belling, halb verdeckt von der Tageszeitung, die er aufgeschlagen vor sich hielt, am Tresen. Lena hatte ihn nach ihrem Besuch bei Dr. Dobelli nicht mehr erreicht, ihn aber – glücklicherweise noch vor dem Überfall – per SMS für zwölf Uhr ins Bacon ’n’ Cheese bestellt. Das Café war an diesem Tag wesentlich voller als sonst, und Belling hatte Lena nicht kommen sehen. Sie hatte sich mehr als zwanzig Minuten verspätet und inständig gehofft, er würde noch immer warten. Doch Belling schien so vertieft in die heutigen Schlagzeilen, dass er ihre Verspätung gar nicht bemerkt zu haben schien. Er sah schlecht aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen und einen Bartschatten. Und obwohl es gerade erst Mittag war, sah sie gerade noch, wie die vorbeieilende Kellnerin seinen Drink abräumte. Kaum hatte Lena auf dem freien Barhocker neben ihm am Tresen Platz genommen,
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