Opferzahl: Kriminalroman
es, als er in seinem viel zu dünnen Leinenjackett die Polhemsgata hinaufwanderte. Sein Name war Jorge Chavez. Er hielt einen kurzen Moment inne, als der Regen heranwehte, blieb auf dem Bürgersteig stehen und ließ sich durchnässen. Es ging ihm nicht besonders gut. Er vollführte langsam eine Drehung um sich selbst - zuerst sah er den Kronobergspark, der im Schatten des Regens wie ein wahrer Dschungel aussah, dann sah er das Polizeipräsidium. Einen Moment lang fragte er sich, welche Seite der Polhemsgata eigentlich die wildere war.
Ein überaus weißer Mann begriff es erst in dem Augenblick, als eine Putzfrau seine Lieblingstoilette besetzte und er in ihrem Gesicht dieselbe Regennässe sah wie in seinem. Sie sah aus, als komme sie aus Südamerika, und sie schien geradewegs von der Straße in seine Herrentoilette gestiefelt zu sein. Er hieß Arto Söderstedt, und seine schlechte Angewohnheit, jeden Morgen einen Liter Apfelsinensaft zu trinken, machte den langen Spaziergang von Södermalm zu einem Kampf gegen die Zeit. Eine blockierte Toilette konnte leicht schicksalsschwere Folgen haben. Er wusste, wie weit es bis zur Nächsten war, und zu laufen war in seinem Zustand keine gute Idee. So erschütterungsfrei wie möglich bewegte er sich die Treppe hinauf.
Als die kurz geschorene blonde Frau mit einem knappen »Hej« auf der Treppe an ihm vorbeistieg, fragte sie sich einerseits, ob er im Begriff war, den Geist aufzugeben wie ein alter Motor, anderseits nahm sie die Rinnsale wahr, die ihm in die Stirn liefen. Und damit überkam sie die Einsicht, dass uns alle trotz allem eine ganze Menge verbindet. Ihr Name war Sara Svenhagen, und als sie neben dem Weißen innehielt, wurde sie hastig weggewinkt und stieg weiter die Treppe hinauf. Als sie schließlich ihr Gesicht in ein geschmeidig hervorgezaubertes Papiertaschentuch drückte, war sie praktisch schon vor der ihr wohlbekannten Tür angelangt.
Dort stand bereits ein sehr großer, schlanker Mann von knapp dreißig Jahren und las eine mit Tesafilm befestigte Mitteilung. Als er Sara sah, erkannte er, dass er nicht der Einzige war, dem die Rinnsale beharrlich über die Stirn liefen. Er hieß Jon Anderson, und er war verblüfft über die Verwunderung in seiner Stimme, als er sagte:
»Die Kampfleitzentrale ist geschlossen.«
»Selbst guten Morgen«, sagte Sara und versuchte, ihr zerlaufenes Gesicht trockenzutupfen.
»Wir sollen anscheinend zur Sicherheitspolizei.«
»Dann schaffe ich es vielleicht noch, mich in Ordnung zu bringen«, sagte Sara mit einem blassen Lächeln.
Was Kerstin Holm betraf, so unterstrich für sie der Anblick eines triefend nassen Sicherheitspolizeichefs die metaphysische Bedeutung dieses kurzen, aber intensiven Regens. Da ihm das für gewöhnlich so glatt gekämmte Haar zu Berge stand und er aussah, als habe er in totaler Verzweiflung versucht, es ohne Spiegel zu ordnen, dachte sie: Der Regen fällt auf Große wie auf Kleine.
Sie fragte sich, ob das ein Liedtext war.
Ohne ein Wort der Begrüßung oder eine Spur von Höflichkeit zeigte der Chef der Sicherheitspolizei auf eine geschlossene Tür und sagte:
»Deine Männer sind schon da. Du bist spät dran.«
»Und du selbst?«, fragte Kerstin Holm lächelnd.
»Komme gleich«, antwortete der Chef der Sicherheitspolizei etwas verkniffen.
»Übrigens sind drei meiner sogenannten Männer Frauen, mich selbst eingeschlossen.«
»Ich weiß«, zischte der Säpo-Chef. »Und du kannst Gift darauf nehmen, dass ich nicht um euch gebeten habe.«
Damit verschwand er auf einer Toilette. Mit eigenem Schlüssel.
Kerstin Holm, die operative Chefin der Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, besser bekannt als die A-Gruppe, befand sich nicht oft im Säpo-Trakt des Polizeipräsidiums. In der Regel war er hermetisch verschlossen. Und auch diesmal war sie nur hereingekommen, nachdem sie sich mehrere Male ausgewiesen hatte. Ihr früherer Chef, Jan-Olov Hultin, hatte anscheinend beim Reichspolizeichef einen Stein im Brett. Sonst wäre ein Treffen wie dieses völlig undenkbar.
Okay, dachte sie und legte eine Hand auf den Türgriff, ich bin ziemlich spät dran. Aber Bengt Äkesson stand diese Zeit zu. Das sind wir ihm schuldig. Das bin ich ihm schuldig.
Dann öffnete sie die Tür.
Der Raum erinnerte an die Kampfleitzentrale, den alten, abgenutzten Sitzungsraum der A-Gruppe, allerdings im Maßstab zwei zu eins. Alles war doppelt so groß,
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