Opferzahl: Kriminalroman
doppelt so elegant, doppelt so zweckdienlich.
Und tatsächlich saßen sie da, alle miteinander, und der Regen lief ihnen über die Gesichter. Da waren Gunnar Nyberg, Lena Lindberg und Viggo Norlander, außerdem Jorge Chavez, Arto Söderstedt, Sara Svenhagen und Jon Anderson. Und, ganz vorn auf dem Podium, völlig unverändert und sich selbst treu, saß der Pensionär Jan-Olov Hultin in höchsteigener Person. Es war gespenstisch, wie ein merkwürdig vergrößertes Standfoto aus der Vergangenheit.
Doch sie waren nicht allein hier, der große Konferenzraum war proppenvoll mit Polizisten. Sie erkannte Gesichter von der Säpo und Gesichter von der Polizei Stockholm. Und Gesichter vom Reichskriminalamt. Hier wurde auf die Pauke gehauen, so viel war klar.
Die A-Gruppe saß gleichsam eingeklemmt in einer eigenen Ecke, und an der Wand hinter Hultin (der allein auf dem mittleren von nicht weniger als neun Stühlen saß) leuchtete ein Bild, das aus einer Power-Point-Präsentation entnommen schien. Darauf stand: »Organisation Fall Carl Jonas«. Hultin warf einen Blick darauf und anschließend einen langen Blick quer durch den Saal.
Kerstin Holm spürte die unaufgeregte Wärme darin, die Hultins Merkmal war. Sie lächelte schwach und glitt, aus einem unerfindlichen Grund in leicht geduckter Haltung, hinüber zu ihren Untergebenen in der A-Gruppe. Sie nickten einander andeutungsweise zu, wischten sich die hartnäckigsten Rinnsale aus der Stirn und rückten zusammen. Als sei es sehr, sehr kalt im Raum.
Sie betrachteten ihren ehemaligen Chef, der vor ihnen auf dem Podium thronte. Er war auffallend unverändert - und gleichzeitig lag ein Schleier von Müdigkeit über seiner Erscheinung. Doch keine Müdigkeit existentieller Art, wie sie ein Pensionär, der fertig gelebt zu haben meint, oder ein Mensch, welchen Alters auch immer, der seiner Arbeit oder seines Lebens extrem überdrüssig ist, so leicht ausstrahlt. Nein, dies war eine konkrete Müdigkeit, eine Müdigkeit, die verriet, dass Jan-Olov Hultin, der nun auf die Siebzig zuging, in dieser Nacht kein Auge zugetan hatte. Im Fernsehen hatte man die Müdigkeit überschminken können. So war es hier nicht. Allem Anschein nach hatte er mit dem Säpo-Chef und dem Duo, das sich jetzt in seinem Rücken offenbarte, in knallharten Verhandlungen gesessen. Es waren die Polizeipräsidentin von Stockholm und der Chef der Reichskriminalpolizei persönlich. Sie nahmen, beide mit einem kurzen Nicken, rechts und links von Hultin Platz.
»Wieso Carl Jonas?«, flüsterte Arto Söderstedt und beugte sich zu Kerstin Holm hinüber; Jon Anderson, der dazwischen saß, wurde eingeklemmt.
»2255 im C20«, flüsterte Kerstin Holm erläuternd.
Söderstedt gefror für zwei Sekunden gleichsam zu Eis. Dann schüttelte er kurz den Kopf und sagte:
»Was?«
»Der gesprengte U-Bahn-Waggon«, verdeutlichte Kerstin Holm. »Er hieß Carl Jonas. Nach Carl Jonas Love Almqvist, darf man vermuten. Wenn es nicht irgendeinen Dokusoap-Promi gibt, der auch so heißt. Fall Carl Jonas. So ist das. Almqvist dreht sich im Grabe um.«
»Das ist er doch gewöhnt«, sagte Kerstin Holm.
Inzwischen waren zwei weitere Potentaten auf dem Podium erschienen: der Säpo-Chef, jetzt mit eleganter, nass gekämmter Frisur, und die neue Chefin der Reichskriminalpolizei. Die erste Frau, die jemals diesen Posten innehatte.
Zusammengenommen ergab das Quintett eine ziemlich imposante Riege, die kurz darauf um den zweiten Mann der Säpo und um Waldemar Mörner ergänzt wurde, den formellen Chef der Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei.
Zuweilen auch als A-Gruppe bezeichnet.
»Mörner?«, platzte Söderstedt heraus.
Vielleicht ein wenig zu laut; die Leute vor ihm drehten sich um und sahen ihn an.
»Was bedeuten dürfte, dass wir in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen werden«, flüsterte Jorge Chavez von vorn.
Kriminalkommissarin Kerstin Holm konnte lediglich mit den Schultern zucken. Sie lehnte sich zurück und machte sich auf so gut wie alles gefasst.
Möglicherweise hätte Hultin sich melden und erzählen können, was sie erwartete. Aber als sie zum Podium aufblickte und seinem Blick begegnete, sah sie ein, dass er vermutlich keine Gelegenheit dazu gehabt hatte. Die Verhandlungen hatten wahrscheinlich bis vor wenigen Minuten angedauert. Und es war fraglich, ob sie überhaupt schon abgeschlossen waren.
Schließlich betraten noch zwei
Weitere Kostenlose Bücher