Opferzahl: Kriminalroman
Lena Lindberg mit enttäuschter Miene.
»Was sagt dein Bauch?«, meinte Sara. »Wenn man alles zusammennimmt?«
Lena Lindberg schnitt eine Grimasse. Schließlich brachte sie heraus:
»Wir haben zwei Möglichkeiten, nicht wahr? Entweder sind die heiligen Reiter von Siffin echte Profis, internationale Terroristen, und dann sind sie vermutlich alles andere als schwedisch. Oder sie sind ein örtlicher Ableger eines Terrornetzwerks, und dann sind sie vermutlich schwedisch. Was hat unser Phonologieprofessor gesagt? Dass sich eventuell Spuren >einer Art Schwedisch< finden. >Das so unbedacht Rinkeby-Schwedisch genannt wird.<«
»Und dazu das Handy, das in Stockholm gekauft wurde«, nickte Sara. »Bestimmt hat er seinen Ibn Khaldun in einer Bibliothek in einem Einwanderervorort ausgeliehen.«
»So kommt es mir vor«, räumte Sara ein. »Aber vorhin hast du gesagt, er habe das Handy in der Innenstadt gekauft. Könnte er nicht auch das Buch in der Stadt ausgeliehen haben?«
»Er hat die Polizei in Älvsjö angerufen«, sagte Sara. »Ich tippe auf südlichen Vorort.«
»Teilen wir uns auf?«, fragte Lena Lindberg.
»Das wird nötig sein, glaube ich«, sagte Sara und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. »Aber zuerst finden wir heraus, wo es das Buch gibt.«
»In welcher Bibliothek«, nickte Lena und begann, ihre Tastatur zu bearbeiten.
Und Sara Svenhagen tat desgleichen.
Lena hielt inne, betrachtete sie einen Augenblick und sagte:
»Und jetzt stellst du natürlich unseren Fortschritt zu dem gemeinsamen Ermittlungsmaterial im Intranet?« Sara hielt ihrerseits inne und sagte: »Ich denke, damit warten wir noch ein bisschen.«
*
Die Roslagsgata liegt mitten in Sibirien. In den Ohren eines Auswärtigen mag diese Behauptung verwirrend klingen, fast schon bizarr. Es sei denn, man ist beispielsweise Amerikaner und betrachtet alles Nordeuropäische als weißen, aber sowjetischen Fleck auf der Karte.
Aber es ist gar nicht so seltsam, wie es klingt. Es handelt sich um einen alten Namen für eine Gegend in Stockholm zwischen dem nördlichen Vasastan und Östermalm, die im achtzehnten Jahrhundert als so nördlich und, vom Stadtkern aus gesehen, als so entlegen galt, dass man zur schlimmstmöglichen Bezeichnung griff.
Sibirien.
An der Roslagsgata in Sibirien gibt es ein Restaurant namens Populäres Sibirien, das von einem homosexuellen Paar betrieben wird, »zwei blonden Stewardessen«, die es einer Formulierung in der größten Morgenzeitung Schwedens zufolge führen, »als sei das ganze Jahr über Schlagerfestival«.
Jon Anderson betrachtete den Eingang, zog vorsichtig seinen Verlobungsring vom Finger und trat ein. Dies hier war ein Heimspiel für ihn, seit er aus dem verhassten Uppsala, wo er von sogenannten Kollegen aufs Gröbste gemobbt worden war, nach Stockholm gezogen war. Als er dann in Polen mit einem Messer schwer verletzt worden war und lange zwischen Leben und Tod geschwebt hatte, hatte er sich den neuen Kollegen gegenüber endlich aus der Deckung gewagt.
Für einen kurzen Augenblick dachte er über die unergründlichen Wege des Lebens nach. Vor nur einem Jahr wäre er außerdem fast von einem Verrückten mit einer Maschinenpistole erschossen worden, wenn ihm sein Partner Jorge Chavez nicht in letzter Sekunde das Leben gerettet hätte.
Und es stimmte, was man sagt: So etwas vergisst man nie.
An einem Tisch etwas weiter im Inneren des Populären Sibirien saß eine wohlbekannte Gestalt, die sich erhob, die Arme ausbreitete und brüllte:
»Jon, mein Lieblingspolizist.«
Jon Anderson war zwar hochgradig homosexuell, aber zuweilen hatte er seine Probleme mit der Exaltiertheit manch anderer Homosexueller. Er war kein besonderer Freund von Flitter, und Tatsache war, dass er Schlagermusik hasste. Wogegen der flatterhafte, ausschweifende Frohsinn von diesem Mann mit dem kurz geschnittenen, blau gefärbten Haar personifiziert wurde, den er jetzt umarmte. Für einen kurzen Moment dachte er, er würde nie irgendwo hineinpassen.
Das ging vorbei. Der Schoß der homosexuellen Gemeinschaft war weit. Er konnte sein, der er war, niemand würde ihn zwingen, zum schwulen Schlagerfan zu werden. Und nirgends hatte er sich so sehr zu Hause, endlich zu Hause gefühlt wie in dieser freien Atmosphäre, wo man sein durfte, wie man sein wollte. Dass Jon Anderson dann nicht recht der sein wollte, der er war, war eine andere Sache. Er wäre eigentlich gern etwas offener und impulsiver gewesen. Aber
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