Opferzeit: Thriller (German Edition)
Keiner kommt erneut mit dem Vorschlag an, mich zu erschießen. Das liegt zum Teil wohl auch an praktischen Erwägungen – ich bin mit Scheiße beschmiert, und einen unbewaffneten Mann voller Scheiße zu erschießen, lässt sich wirklich schwer erklären.
»Es wird stinken«, sagt Sackgesicht, und sie lachen immer noch, allerdings nicht mehr ganz so laut. Dann verstummen sie.
»Gehen wir einfach«, sagt Kent.
»Halt«, sage ich. Ich liege immer noch auf der Seite, mit dem Gesicht im kalten Matsch.
»Warum?«, fragt sie.
Damit Melissa euch erschießen kann. Euch alle. Damit sie mich retten kann. Es wird immer dunkler, aber die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen. Ist das nicht das Zwielicht? Hat Mom meine Botschaft nicht weitergegeben?
»Ich möchte ihm die letzte Ehre erweisen«, sage ich.
»Gehen wir«, sagt Jack, greift nach unten und hievt mich auf die Füße. Officer Sackgesicht schaufelt das Loch wieder zu und klopft die Erde fest.
Wir gehen zurück zum Wagen. Die Berge in der Ferne liegen jetzt zu meiner Rechten. Das sind dieselben Bäume, dasselbe Erdreich, dieselben moosbedeckten Felsen. Derselbe Anblick, nur dunkler. Hundert Meter. Zweihundert Meter. Der Hosenboden meines Overalls fühlt sich kalt an. Er klebt an meinen Beinen und an meinem Arsch, und er riecht genauso wie das Sandwich. Mit den Ketten um meine Knöchel kann ich nur langsam gehen. Mein Magen tut zwar nicht mehr so heftig weh, aber ich spüre, wie das Stechen wieder stärker wird. Irgendwo zwischen den Bäumen lauert Melissa, aber sie lässt sich Zeit und wartet auf die perfekte Schussmöglichkeit. Dass ich mit meiner eigenen Scheiße beschmiert bin, wird für sie ein Stimmungskiller sein, aber ich werde mich richtig sauber machen. An derselben Stelle wie vorhin verliere ich erneut meinen Schuh, doch ich habe nicht die Kraft, mich zu bücken und nachzuschauen. Mit jeder Minute wird es dunkler. Meine Socke ist von Matsch durchweicht und mein Fuß ist kalt, und wenn ich auf eine Baumwurzel oder sonst was trete, das hervorragt, tut es weh. Schließlich erreichen wir den Zaun. Wir klettern auf die gleiche Weise darüber hinweg wie vorhin, na ja, fast: Während die zwei Beamten vor mir mich ziehen, weigern sich die beiden hinter mir, mich zu schieben. Sie wollen mich nicht anfassen. Also müssen die zwei Beamten vorne die ganze Arbeit allein machen, denn ich bin zu entkräftet, um ihnen dabei zu helfen. Als ich es über den Zaun geschafft habe, fange ich meinen Sturz mit den Armen ab, und ein paar Sekunden später zieht man mich wieder hoch. Dann gehen wir zum Wagen. Meine Füße sind voller Matsch. So wie mein Konto voller Geld ist. Geld, das ich nicht ausgeben kann, es sei denn, Melissa eröffnet das Feuer. Nur das tut sie nicht. Niemand tut es.
Wir stehen alle am Heck des Transporters und überlegen, wie wir bei unserem nächsten Schritt möglichst wenig Sauerei machen können, doch niemandem fällt etwas ein, und es gibt nichts, was man über den Sitz legen könnte, also steige ich ein; es ist wie auf der Hinfahrt, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, als spule man einen Film zurück. Nur dass ich mich vollgeschissen habe, wurde nicht rückgängig ge macht – das bleibt so. Die Kette an meinen Handschellen wird erneut an der Öse befestigt. Ich habe mich ganz vornübergebeugt. Die beiden Cops hier hinten sitzen möglichst weit von mir entfernt. Jack öffnet sein Fenster, Kent lässt ihres jetzt ganz herunter. Der Transporter springt nicht sofort an, gut zwei Sekunden lang dreht der Motor leer, und ich glaube schon, Melissa hat daran herumgeschraubt, doch dann springt er an, und Jack drückt ein paarmal aufs Gas, dann löst er die Handbremse und wendet den Wagen. Es folgen erneut Links- und Rechtskurven, nur in umgekehrter Reihenfolge. Jack schaltet die Scheinwerfer ein. Zwanzig Meter vor uns auf der Straße erscheint ein Kaninchen im Scheinwerferlicht, und die Vor stellung, von dem Transporter überfahren zu werden, scheint ihm nichts auszumachen, was sich aber bestimmt ändert, als es unter die Räder geschleudert wird. Motten flattern in die Scheinwerfer und klatschen gegen die Windschutzscheibe. Es ist, als würde die Natur in meiner Umgebung sich das Leben nehmen, als würden wir mit einem Transporter des Todes in die Stadt fahren. Meine Füße sind nass und kalt. Melissa ist nicht gekommen.
Sie ist nicht gekommen.
Kapitel 40
Die äußere Hülle des Gebäudes steht bereits. Im Innern befinden sich Büros in
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