Opferzeit: Thriller (German Edition)
unterschiedlichen Stadien der Fertigstellung. Den Komplex wird man erst zu Ende bauen, wenn die Rezession einem Aufschwung Platz macht. Keiner weiß, wann das sein wird. Gegenüber dem Gebäude befindet sich der Strafgerichtshof von Christchurch, der ebenfalls bis vor Kurzem noch im Bau war. Schlechte oder gute Zeiten – es spielt keine Rolle, wie es der Wirtschaft geht, wenn es sich darum dreht, Verbrecher zu bestrafen. Das alte Gerichtsgebäude steht ein paar Blocks weiter, doch Christchurch ist gewachsen, und damit wurden auch die Probleme größer, und um das widerzuspiegeln und um böse Menschen schneller ins Gefängnis zu befördern, war ein größeres Gerichtsgebäude nötig.
Der Zustand der Büros im dritten Stock, in dem Melissa und Raphael jetzt stehen, reicht von fast fertig bis kaum angefangen. Das Büro, für das sie sich entschieden haben, ist fast fertig. Sämtliche Wände sind vorhanden, es gibt Lam pen- und Stromanschlüsse und kaum mehr frei liegende Kabel. An einer der Wände stehen mehrere Dosen mit Farbe, Putzzeug, einzelne Geräte sowie zwei Sägeböcke und eine Holzlatte, die als Gerüst dienen. Es ist ziemlich staubig. Die Oberflächen wurden geschliffen, und dann hat niemand mehr sauber gemacht. Alles wirkt, als würde es schon seit einer Weile hier stehen, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das ändern wird.
Vor sechs Monaten hat Melissa einen Wachmann getötet, der in einem Gebäude zwei Blocks entfernt gearbeitet hat, ein Haus, von dem aus man die Vorderseite des Gerichtsgebäudes überblickt und das sie ursprünglich für ihr Vorhaben ausgesucht hatte. Es war eine unglückliche Fü gung des Schicksals – zumindest für den Wachmann –, denn sie wollte ihn nicht töten. Sie wollte ihm nur seine Schlüssel klauen und er hat sie dabei erwischt. Sie hatte keine Wahl. Damals war das Haus Teil ihres Plans. Vom Dach aus wollte sie den Schuss abfeuern. Hier, in diesem Gebäude, gibt es weniger Probleme. Sie musste niemanden töten. Sie musste am Donnerstag, als sie sich für das Gebäude entschieden hatte, lediglich eine Minute lang das Schloss am Hintereingang bearbeiten. Ein Kind mit einem Zahnstocher hätte das Ding knacken können. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, schraubte sie mit einem Schraubenzieher das Schloss auf der Innenseite ab, damit man die Tür nicht mehr verriegeln konnte. Das war nötig. Hätte sie die Tür abgeschlossen und vor Raphaels Augen erneut geknackt, dann, so dachte sie, hätte er vielleicht zu viele Fragen gestellt. Es ist ein Wunder, dass sich die Büros hier nicht in Zwei-Sterne-Hotelzimmer für Obdachlose verwandelt haben. Außerdem ist sie überrascht, dass nichts geklaut und weiterverkauft wurde.
Raphael öffnet den Koffer und fängt an, das Gewehr zusammenzubauen. Sie hat gemerkt, wie viel Spaß es ihm gemacht hat, damit zu schießen. Zu zeigen, dass er ihr Mann war. Sie war lediglich in der Lage, den Boden zu treffen. Zu mindest hat sie so getan. Auf diese Weise wurde die Rollenverteilung zwischen ihnen weiter gefestigt. Er ist der Schütze – nicht sie. Sie ist die Sammlerin – nicht er. In ihrer Beziehung geht es ums Schießen und Sammeln, es handelt sich also um einen Zweipersonenplan. Daran gibt es nichts auszusetzen.
Das Zielfernrohr schraubt Raphael nicht ans Gewehr. Stattdessen tritt er, es in beiden Händen haltend, ans Fenster. Er trägt ein Paar Latex-Handschuhe. Sie ebenfalls. Es gibt keinen Grund, überall ihre Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Polizeiuniform befindet sich immer noch in der Tasche.
»Ich kann von hier alles überblicken«, sagt er.
»Was ist mit dem Gerichtsgebäude? Wie sieht es aus?«, fragt sie, obwohl sie weiß, wie es aussieht. Das Büro liegt in direkter Blickachse zum Hintereingang des Gerichtsgebäudes. Man hat einen guten, unverstellten Blick auf den Parkplatz und die Türen des Gebäudes und auf den zehn Meter breiten Betonstreifen dazwischen. Auf einem zehn Meter breiten Streifen kann eine Menge passieren. Auf der Straße werden Tausende von Menschen unterwegs sein, doch auf dem Parkplatz werden sich nur ein paar Cops mit Joe aufhalten. Die Sache sollte also kein Problem sein. Die Menschenmenge wird ihnen nicht die Sicht ver sperren. Raphael muss nichts weiter tun, als Ruhe zu bewahren. Vor sechs Monaten bot sich einem von dem anderen Gebäude, das sie ausgesucht hatte, ein ganz anderer Blick. Vor sechs Monaten schaute man, egal von wo, auf einen einzigen Wirrwarr aus Kränen, Bulldozern und
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