Opferzeit: Thriller (German Edition)
zu Ihnen hingezogen fühlte?«
Fast hätte ich laut gelacht. »Was? Nein. Auf keinen Fall. Ich bin ja nicht schwul.«
»Das habe ich nicht gefragt«, sagt sie. »Ich hab gefragt, ob Sie das Gefühl hatten, er habe sich zu Ihnen hingezogen gefühlt.«
»Ich denke, das ist gut möglich. Schließlich war ich der Einzige, der mit ihm gesprochen und ihn nicht gemobbt hat.«
»Worum es mir geht, Joe: Glauben Sie, dass er Sie in sexueller Hinsicht attraktiv fand?«
Ich schüttle den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen, aber ich habe ihn nicht umgebracht. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, und die Staatsanwaltschaft kann meinetwegen so tief wühlen, wie sie will, denn ich habe rein gar nichts damit zu tun. Können wir jetzt über was anderes reden?«
»Nein. Noch nicht. Erzählen Sie mir noch mehr über Ronald. Erzählen Sie mir von Ihrer letzten Begegnung.«
»Mein Gott, warum zum Teufel sind alle so an Ronald interessiert? Ich sag Ihnen doch, ich habe keine Ahnung, was mit diesem Jungen passiert ist.«
Sie starrt mich schweigend an, und mir wird bewusst, dass ich gebrüllt habe. Ich schüttle den Kopf, denke über Ronald nach und konzentriere mich auf unsere letzte Begegnung. Die Schule war für uns beide sicher nicht das reine Vergnügen, aber ich denke, das geht wohl fast allen so. Wir waren nicht wirklich beste Freunde, aber er war ein ziemlich guter Freund. Manchmal kam er nach der Schule vorbei, wir sind runter an den Strand gefahren und mit dem Mountainbike durch die Sanddünen gebrettert, oder wir sind im Park auf Bäume geklettert. Wir haben über allen möglichen Kram geredet, über den zehnjährige Jungs eben so reden, außer über Frauen. Über die haben wir nie geredet. Ich wusste, dass er schwul war. Als wir fünfzehn wurden, hat er das nach Möglichkeit vor allen verborgen gehalten. Mir war klar, dass er mich mochte. Aber es war mir egal – wenn dich ein schwuler Typ mag, heißt das noch lange nicht, dass man selbst schwul ist, es schmeichelt einem einfach. Aber dann änderten sich die Dinge. Es kam zum Urknall, und in den nächsten zwei Jahren folgte ein kleinerer Urknall nach dem anderen, und meine Freundschaft mit Ronald trat in den Hintergrund. Ich sah ihn in der Schule, sprach aber selten mit ihm. Ich bekam mit, wie man auf ihm herumhackte, aber das hieß einfach nur, dass es für mich erträglicher wurde, und da ich die Schulhofschläger jetzt bezahlte, war mein Leben ziemlich gut. Bis auf meine liebende Tante und die Vergewaltigungen, wie Ali es nennt.
Nachdem meine Beziehung zu Tante Celeste beendet war, begann ich wieder mit Ronald abzuhängen. Doch die Dinge lagen jetzt anders – das Komische war, dass er keinen Kontakt mehr zu mir wollte, ich ihm aber trotzdem überallhin folgte. Ich war mir sicher, dass er irgendwann wieder ankommen würde. Schließlich war er im ganzen vergangenen Jahr in mich verknallt gewesen, und so was verschwindet nicht von heute auf morgen. Irgendwann würde er schon wieder mein Freund sein wollen. Aber um die Wahrheit zu sagen, es ärgerte mich, dass er mich ignorierte, ebenso sehr wie es mich ärgerte, dass meine Tante mich ignorierte. Ich fühlte mich sitzen gelassen.
Ich wollte meine Tante bestrafen. Nicht für das, was sie mir angetan hatte, sondern weil ich genau das am Ende genossen und sie es mir dann verweigert hatte. Als dann Ronald auch noch anfing, mich zurückzuweisen, na ja, da fühlte ich mich nicht nur sitzen gelassen, ich wurde regelrecht wütend. Es war dieselbe Wut, die ich gegenüber meiner Tante empfand – nur konnte ich in Ronalds Fall etwas dagegen unternehmen.
»Ich kann mich wirklich nicht an unsere letzte Begegnung erinnern«, erkläre ich ihr. »Manchmal nahm man ihn wahr, manchmal auch nicht, und so werden ihn wohl die meisten Leute in Erinnerung behalten.«
»Aber Sie nicht«, sagt sie. »Sie erinnern sich auf andere Weise an ihn.«
Tatsächlich erinnere ich mich auf andere Weise an ihn. Ich erinnere mich an das Loch in seiner Schläfe, in das die Spitze eines Zimmermannshammers perfekt passte. »Ich habe ihn nicht getötet«, wiederhole ich, aber natürlich habe ich ihn doch getötet. Er hat mich zurückgewiesen, und ich habe ihn mit einem Hammer erschlagen. Die Leute sagen immer, sein erstes Mal vergisst man nie – und obwohl die Leute nur selten recht haben, trifft es in diesem Fall zu hundert Prozent zu. Ronald war mein Erster – und ich erinnere mich gut daran –, nur denke ich nicht an
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