Opferzeit: Thriller (German Edition)
Wenn seine Hand hier oben nur einen Millimeter verzieht, macht das dort unten womöglich einen ganzen Meter Unterschied aus. Aber es gibt keine Alternative. Sie hat monatelang über andere Möglichkeiten nachgedacht, Joe aus dem Gefängnis zu holen – und dies ist das Ergebnis. Dabei ist es nicht mal so, dass es die beste Idee aus einer Reihe von schlechteren gewesen wäre – Tatsache ist, es war immer die einzige Idee.
Es sind noch zwei Patronen übrig und das panzerbrechende Projektil. Dieses lässt sie, wie es ist. Der Kugelzieher, den sie im Waffengeschäft gekauft hat, hat die Form eines Hammers und löst die Kugel mithilfe kinetischer Energie aus der Patronenhülse. Die Vorrichtung kann immer nur eine Kugel auf einmal entfernen. Arthur hat ihr die Kompo nenten in der richtigen Größe verkauft, und die Kugel rutscht passgenau in die Öffnung des Werkzeugs. Melissa kniet sich hin und muss das Werkzeug auf den Boden schlagen, als würde sie einen Hammer schwingen, und bereits nach drei Schlägen löst die Kugel sich. Bei der zweiten Kugel braucht sie vier Schläge. Sie kann gut mit Werkzeug umgehen. Joe könnte das sicher bestätigen. Bestimmt gibt es Leute, die das selbe mit Zange und Schraubstock versuchen und sich dabei die Finger wegsprengen. Dagegen ist der Gebrauch dieses Werkzeugs ein Kinderspiel. Es löst die Kugel problem los aus der Hülse. Melissa entfernt das Schießpulver. Anschlie ßend verwendet sie das zweite von Arthur erstandene Werkzeug, um damit die Kugeln wieder in die Patronenhülsen einzusetzen. Die Patronen sehen nun aus wie zuvor – und der Gewichtsunterschied durch das fehlende Schießpulver ist vernachlässigbar gering.
Sie legt das Gewehr wieder genau so hin, wie sie es vorgefunden hat, bereit für Raphael, der morgen früh kommen und es benutzen wird. Obwohl sie für den weiteren Tagesverlauf einen straffen Zeitplan hat, nimmt sie sich einen Moment Zeit, um noch einmal kurz auf den Hinterausgang des Gerichtsgebäudes zu schauen. Morgen wird entweder ein richtig guter Tag für Joe, oder es wird ein richtig beschissener Tag. Aber wie auch immer es ausgehen wird, am Ende des Tages wird er kein Gefangener mehr sein.
Kapitel 46
Als Ali eintrifft und man mich zu ihr führt, bin ich nervös. Plötzlich verspüre ich den wachsenden Druck, sie von meiner Unschuld zu überzeugen. Obwohl ich die fünfzigtausend Dollar gerade erst verdient habe, würde ich jeden einzelnen davon bereitwillig hergeben, nur damit sie mir glaubt.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter«, fordert sie mich auf, sobald wir uns gesetzt haben und ich an meinem Stuhl festgekettet bin.
»Von meiner Mutter? Warum?«
»Weil ich Sie darum gebeten habe.«
Ich zucke mit den Achseln und meine Handschellen klappern gegen den Stuhl. »Na ja, Mom ist eben Mom«, sage ich. »Da gibt’s nicht viel dazu zu sagen«, füge ich hinzu, und denke, dass dem nichts weiter hinzuzufügen ist.
»Haben Sie eine gute Beziehung zu ihr?«
»Natürlich. Warum auch nicht?«
»Die meisten Serienkiller haben ein problematisches Verhältnis zu ihrer Mutter«, sagt sie.
»Würden Sie diesen Ausdruck bitte nicht verwenden?«
»Serienkiller?«
»Ja. Das klingt so … Ich weiß auch nicht. Irgendwie stört es mich. Mir gefällt diese Bezeichnung nicht«, sage ich.
»Ihnen gefällt diese Bezeichnung nicht.«
»Richtig«, sage ich.
Sie starrt mich an, als könne sie nicht glauben, was ich gerade gesagt habe. Als ob in meinem Fall die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils nicht gelten würde. »Ob Sie sich nun daran erinnern oder nicht«, sagt sie, »Sie haben diese Menschen tatsächlich getötet. Daher ist die Bezeichnung Serienkiller zutreffend.«
»Ist das auch die Bezeichnung, die mein Anwalt verwenden wird?«
Sie nickt. »Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagt sie. »Aber kommen wir wieder auf den Punkt zurück, auf den ich ursprünglich hinauswollte, nämlich, dass die meisten Menschen in Ihrer … Situation … keine tolle Beziehung zu ihrer Mutter haben.«
»Joe ist nicht wie die meisten Menschen«, erkläre ich ihr, und zutreffendere Worte wurden wohl selten gesprochen.
»Wie lange haben Sie bei ihr gelebt?«
»Ich bin ausgezogen, nachdem Dad gestorben ist«, erkläre ich ihr.
»Warum?«
»Meine Mutter wurde unerträglich. Als Dad noch am Leben war, da hatte sie den ganzen Tag jemanden zum Reden, aber nach seinem Tod war nur noch ich übrig.«
»Hat Ihre Mutter Sie missbraucht?«
»Was?«, frage ich, und
Weitere Kostenlose Bücher