Opferzeit: Thriller (German Edition)
wenn das zutrifft, was war der Grund dafür? Ohne Zweifel hat es irgendetwas mit dem Prozess zu tun.
»Und natürlich ist morgen der große Tag, meine Damen und Herren«, verkündet der DJ ihr und allen anderen, die zuhören. »Morgen beginnt der Prozess gegen Joe Middleton, den Schlächter von Christchurch. Der Mann, dem die Todesstrafe droht.« Melissa erwartet, dass der DJ jetzt Tele fonanrufe von Hörern aus dem ganzen Land entgegennimmt, die ihre Ansicht über die Todesstrafe kundtun, aber er unter lässt es, was im Grunde keine Rolle spielt, weil sie sämtliche Argumente längst gehört hat, ebenso wie jeder andere im Land. Alle halten es für ein kontroverses Thema, man tritt ent weder entschlossen dafür oder entschlossen dagegen ein. Sie schert sich weder um die eine noch um die andere Position.
Die Fahrt zu dem Haus dauert fünfzehn Minuten, und in dieser Zeit heizt sich der Wagen ordentlich auf. Sie reibt ihre Hände aneinander. Wärmt ihre Finger und greift dann nach der Pistole. Das Viertel hier ist ganz in Ordnung. Nichts wirklich Großartiges. Aber auch nicht heruntergekommen. Einfach in Ordnung eben. Eine Gegend, in der sich Menschen ansiedeln, die gerne ihre Ruhe haben. Kleine Häuschen mit zwei Schlafzimmern, kleinem Garten, nicht alt, nicht modern, einfach in Ordnung – ein Paradies für Menschen, die es gerne durchschnittlich haben. Hinter den Fenstern leuchten Fernsehschirme, in den Wohnzimmern und Schlafzimmern sind die Lichter eingeschaltet, ansonsten keinerlei Lebenszeichen bis auf zwei Katzen, die sich auf einem Zaun gegenübersitzen. Es ist drei Monate her, seit sie das letzte Mal hier war. Damals war es wärmer. Sehr viel wärmer. Sie hat ein Chaos hinterlassen. Ein großes Chaos. Mit Blut, zerrissenem Fleisch und Geschrei. Viel Geschrei. Trotzdem hat sie damals schon gewusst, dass sie heute Nacht hierher zurückkehren wird.
Sie parkt den Transporter am Straßenrand und schließt die Tür ab, denn sie weiß, wenn jemand ihren Wagen stiehlt, ist ihr ganzer Plan zunichte. Sie geht den Fußweg hoch. Der Garten ist sauber und gepflegt. Sie sieht die Beine eines Gartenzwergs, aber keinen Rumpf. Nur schartige Kanten, wo einst sein rundlicher Leib ansetzte. Weitere Gartenzwerge da draußen mussten ein ähnliches Schicksal erleiden. Im Inneren des Hauses brennt Licht. Melissa erkennt hinter dem Vorhang die sich bewegenden Farbmuster eines Fernsehgeräts. Sie steigt die Stufen hinauf und presst ihren Finger für eine halbe Sekunde auf den Klingelknopf. Sie muss nicht lange warten, bis sich drinnen Schritte nähern.
Melissa hält die Pistole seitlich am Körper, sodass sie nicht zu sehen ist.
Die Tür wird aufgerissen.
Die Frau, die jetzt in der offenen Tür steht, trägt einen Winterpyjama und einen Bademantel, die beide ein bisschen zu groß für Sie sind, obwohl sie selbst nicht gerade schlank ist. Allerdings ist die Frau nicht mehr so dick wie auf den Fotos in der Zeitung vor zwölf Monaten, als sie sich bei Joes Verhaftung auf ihn gestürzt hatte, und auch nicht mehr so dick wie vor drei Monaten, als Melissa sie aufgesucht hat. Ihr Gesicht ist irgendwie gerötet. Sie wirkt, als hätte sie es eilig. Sie trägt ein Kruzifix um den Hals. Ein kleiner Jesus an einem kleinen Kreuz. Ein kleiner Jesus, der nicht glücklich darüber scheint, dort zu hängen, wo er hängt.
»Ich dachte, wir hätten eine Abmachung«, sagt die Frau, »Sie haben mir versprochen, dass Sie mich in Ruhe lassen.«
»Und ich habe mich auch bis heute daran gehalten, Sally«, sagt Melissa. »Aber jetzt bin ich hier, um eine neue Abmachung zu treffen. Und die beginnt damit, dass du mich reinlässt.« Sie hebt die Pistole und drückt sie gegen Sallys rechte Brust, genau dorthin, wo Jesus nach Möglichkeit nicht hinschaut. »Aber wenn du es vorziehst, kann ich dir auch in den Bauch schießen, und du kannst hier verrotten.«
Kapitel 49
Raphael erwacht in der Erwartung einer schicksalhaften Fügung und rechnet halbwegs damit, dass er Halsschmerzen hat, dass ihm schrecklich übel ist oder sein Herz rast von zu viel schlechtem Essen oder ihn zumindest ein furchtbarer Kater plagt – auch wenn er gestern gar nicht so viel getrunken hat. Doch das Schicksal war noch nie auf der Seite derjenigen, die einfach nur friedlich miteinander auskommen wollen. In dieser Stadt gibt es zu viele traurige Geschichten, die das Gegenteil beweisen, und es ist daher kein Wunder, dass das Schicksal in Bezug auf Joe am gleichen Strang zieht wie er
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