Opferzeit: Thriller (German Edition)
sein letzter entspannter Sonntag. Nie wieder wird er Fotoalben durchblättern oder Videos anschauen. Er weiß, dass die Rote Wut morgen ihren Job erledigen wird. Er hat eine Kugel für Joe vorgesehen und eine für Melissa, und er hat eine Patrone in Reserve, falls er vorbeischießt – aber er wird nicht vorbeischießen. Er hat eine Mission – einen tiefen inneren Antrieb –, und er wird nicht versagen.
Erst nachdem die Schüsse gefallen sind, wird es knifflig werden. Denn selbst wenn ihm die Flucht gelingt, wird die Polizei nach ihm fahnden. Natürlich werden sie das. Sie sind ja nicht blöd. Vielleicht blöd genug, um Joe Middleton so lange frei herumlaufen und ihn Menschen töten zu lassen – aber nicht blöd genug, um sich keinen Reim auf das zu machen, was morgen geschehen wird.
Der morgige Tag wird ihm vielleicht Erleichterung verschaffen, doch er bildet sich nicht ein, dass damit wirklich ein Heilungsprozess beginnt. Und er macht sich auch nicht vor, dass er wieder mit seiner Frau zusammenkommt. Gegen Ende des morgigen Tages wird er mit ziemlicher Sicherheit in einer Gefängniszelle sitzen. Aber das ist in Ordnung so. Denn er wird seine Tochter gerächt haben, und dafür ist er bereit, tausend Jahre im Gefängnis zu sein.
Kapitel 48
Melissa ist müde, aufgeregt und nervös. Das ist keine vorteilhafte Mischung. Es war ein guter Tag, aber er war auch sehr lang, und vor ein paar Stunden hat sie sich etwas Zeit für ein kurzes Nickerchen gegönnt. Sie versucht, sich zu ent spannen, seit sie die Waffe wieder in der Zwischendecke des Büros verstaut hat und nach Hause zurückgekehrt ist. Ihr Haus liegt zwar nicht in der Einöde, aber die nächsten Nachbarn wohnen zwei Fußminuten entfernt, und sie hat sie noch nie gesehen. Es ist hübsch, liegt etwas versteckt, und sie hat die Miete für Monate im Voraus bezahlt, ebenso wie den Gärtner. Als sie ihren alten Namen Nathalie ablegte und zu Melissa wurde, hat sie auch ihre Bankkonten leer geräumt. Außerdem hat sie die Bankkonten anderer Leute leer geräumt. Damit bestreitet sie jetzt ihren Lebensunterhalt.
Der Tag hat sich verabschiedet, ebenso wie die Hitze, und was zurückbleibt, ist einer jener kalten Winterabende, die niemand, der recht bei Trost ist, wirklich genießen kann. Ihre Schulter schmerzt vom häufigen Abfeuern der Waffe heute Vormittag, und sie hat überlegt, ein paar Schmerztabletten und entzündungshemmende Medikamente einzunehmen, hat sich dann aber doch dagegen entschieden.
Den angemieteten Transporter hat sie in der Einfahrt abgestellt, statt ihn in die ans Haus angrenzende Garage zu fahren. Sie hat die Mietgebühr für den Wagen bar bezahlt, dabei einen falschen Ausweis benutzt und eine Zusatzversi cherung abgeschlossen, nicht weil sie sie tatsächlich braucht, sondern weil die meisten Leute eine abschließen, und sie legt Wert darauf, in der Massenkultur unterzutauchen.
Der Transporter ist wichtig für ihren Plan.
Sie schließt das Haus hinter sich ab, und auf dem Weg zum Wagen wickelt sie ihre Jacke fest um sich. Der Wagen braucht zwei Minuten, bis es in seinem Innern richtig warm wird, und bis dahin hat sie ihre Jacke so fest um sich geschlungen, dass sie davon fast erwürgt wird. Die Windschutzscheibe ist mit Reif bedeckt. Alles ist mit Reif bedeckt. Es ist ein ruhiger Abend. Kein Wind. Keine Wolken. Kalt, aber perfekte Bedingungen zum Schießen.
Sie schaltet den Scheibenwischer ein und will mit der Scheibenwaschanlage Wasser auf die Windschutzscheibe spritzen, aber die Düsen sind zugefroren. Die Scheibenwischer helfen auch nicht, sie kratzen einfach nur übers dünne Eis. Es dauert eine Weile, bis die Heizung die Windschutzscheibe erwärmt, und schließlich beginnen die Scheibenwischer, die Eisschicht aufzureißen. Ein paar Minuten später kann sie hindurchschauen.
Es sind noch ein paar andere Autos unterwegs. Aber nicht viele. Sie schaltet das Radio ein, um die Monotonie des Motorgeräuschs zu übertönen. Wie zu erwarten, spricht ein Radio-DJ über die Ereignisse des Tages, über das, was morgen und vielleicht im Lauf des Jahres noch folgen wird. Eine Leiche – höchstwahrscheinlich die von Detective Inspector Robert Calhoun – wurde gefunden. Und zwar ausgerechnet von einem Hellseher. Sie findet das schwer vorstellbar. Ja, eigentlich findet sie es überhaupt nicht vorstellbar, und sie fragt sich, was in Wahrheit dahintersteckt. Sie vermutet, dass es ein taktischer Zug von Joe war, das Versteck der Leiche zu verraten. Aber
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