Opferzeit: Thriller (German Edition)
Das letzte Jahr ohne ihn war hart. Die ersten paar Monate weniger. Zunächst war sie einfach nur sauer, dass er verhaftet worden war, und das Leben ging weiter. Aber dann stellte sie fest, dass sie schwanger war. Ab da überschwemmten Hormone ihren Körper. Alle möglichen Dinge ließen sie in Tränen ausbrechen, zufällige Dinge, aber vor allem Zei tungsgeschichten, die von Kindern oder Tieren handelten. Geschichten mit schlimmem Ende. Und es gab immer Geschichten mit schlimmem Ende. Sie entwickelte ein Verlangen nach merkwürdigen Speisen. Sie aß rohe Kar toffeln. Konnte nicht genug davon kriegen. Wie auch Schokolade. Über einen Monat hinweg war sie überzeugt, dass sie allein die gesamte Schokoladenproduktion Neusee lands vertilgte. Dann ließen diese Begierden nach und wurden von neuen abgelöst, plötzlich wollte sie nur noch Früchte essen oder nur noch Hühnchen und Thai-Küche, und während dieser ganzen Zeit wurden ihre Gefühle für Joe immer intensiver. Nach drei Monaten Schwan gerschaft begann sie zu überlegen, wie sie ihm zur Flucht verhelfen konnte. Sie wollte, dass ihr Baby einen Vater hatte – und vor allem wollte sie ihr Baby. Sie hatte immer eines gewollt.
»Wohin gehen wir?«, fragt er schließlich.
Auch Melissa wechselt die Kleider. Gestern Abend hat sie sich für diese Gelegenheit extra etwas zum Anziehen mitgebracht und sich eine neue Perücke besorgt. Sie trägt jetzt schwarz. »Wir fahren nach Hause«, sagt sie. »Wir werden eine Weile untertauchen. Die Polizei sucht nach Leuten, die auf der Flucht sind. Solche Leute sind leicht zu finden. Aber wir verstecken uns und …«
»Haben wir wirklich eine Tochter?«, fragt er, »oder habe ich das nur fantasiert?«
Sie sind immer noch in Sallys Haus. Melissa hasst diesen Ort. Sie kann sich kaum vorstellen, dass es hier viel besser ist als dort, wo Joe die letzten zwölf Monate verbracht hat. D ie Luft im Raum fühlt sich stickig an. Hier kommt nicht viel Sonne rein. Sie ist sauer auf Sally, weil sie den Kühlschrank nicht gut bestückt hat. Sie ist hungrig, und es gibt nichts zu essen.
»Ja«, sagt sie. »Sie ist wunderschön. Sie hat deine Augen.« Sie wusste, es würde ein Schock für Joe sein. Sie wusste, er würde Zeit brauchen, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Verdammt, sie hatte ganze neun Monate gehabt, um es zu verarbeiten, und trotzdem fühlte es sich nicht wirklich real an, bis sie dann eines Tages auf Sallys Bett lag neben einem Baby, das ihre Vagina zu etwas ausgeweitet hatte, das einem ausgenommenen Kaninchen glich. Daher weiß sie, dass sie Joe etwas Zeit geben muss – sie hat nur gehofft, er würde in dieser Zeit ein kleines bisschen glücklicher sein. »Ihr Name ist …«
»Abigail«, beendet Joe ihren Satz, während er den Hut, den sie ihm gegeben hat, ein wenig zurechtrückt, sodass niemand sein Gesicht erkennen kann, wenn sie das Haus verlassen.
»Hast du das vorhin ernst gemeint, dass du lieber wieder zurück ins Gefängnis gehst?«
»Nein. Natürlich nicht«, sagt er. »Wo werden wir uns verstecken?«
»Bei mir«, sagt sie.
»Lebst du immer noch im gleichen Haus?«
»Nein«, sagt sie. »Ich bin umgezogen.«
»War das, bevor du angefangen hast, andere Leute zu töten?«, fragt er.
»So etwa zu der Zeit. Bist du sicher, dass du das nicht ernst gemeint hast mit dem Zurückgehen ins Gefängnis?«
»Natürlich bin ich sicher. Hast du Sex mit den Männern gehabt, die du getötet hast?«, fragt er.
»Natürlich nicht«, sagt sie. Und es ist wahr. Aber es ärgert sie nicht, dass er danach fragt.
»Bist du dir sicher?«
»Natürlich bin ich mir sicher. Hast du im Gefängnis jemanden gefickt?«
»Nein. Natürlich nicht.«
»Hat dich jemand gefickt?«
»So war das nicht. Ich war nicht mit anderen Häftlingen zusammengesperrt, ansonsten wäre es wohl passiert. Seit dir hat es niemanden mehr gegeben«, erklärt er ihr.
Sie glaubt ihm. Ein Mann wie Joe – sie stellt sich vor, er würde sich lieber selber töten, als jemandes Sexsklave zu sein. »Was macht die Schulter?«
»Sie schmerzt«, sagt er. »Und zwar ziemlich. Aber ich werde es schaffen.«
Sie hilft ihm auf die Beine. Dann verlassen sie das Schlafzimmer.
»Wir müssen bei meiner Mutter vorbeifahren«, sagt Joe.
Sie wirft ihm einen Blick zu, der besagt: Warum zum Teufel sollten wir das tun , und lässt dann den Satz folgen: »Warum sollten wir das tun?«
Also erklärt er ihr, warum, während sie ihn gegen den Türrahmen lehnt, ihn dort aufrecht hält
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