Opferzeit: Thriller (German Edition)
nicht, dass Joe anfängt, über sie auszupacken, nur weil die Staatsanwaltschaft ihm ein Angebot macht, das er nicht ablehnen kann. Sie will ihn nicht am Dienstag erschießen oder am Mittwoch oder einen Monat nach Prozessbeginn. Sie hatte es für Montag geplant, aber der Plan hat sich zerschlagen, allerdings kann sie es mit einem neuen Plan immer noch am gleichen Tag schaffen.
So wie sie momentan herumläuft, sehen die Leute nicht Melissa vor sich, sondern eine schwangere Frau, die kurz davor ist zu platzen, sie sehen eine werdende Mutter, denn sie schauen nicht genau hin und fragen sich nicht, ob sie eine Mörderin sein könnte. Die Menschen sind so leicht zu täuschen. Sie macht das jetzt schon seit Jahren. Sie hat festgestellt, dass man mit einer Perücke und Haarfärbemittel, mit falschen Wimpern und im neunten Monat schwanger jeder sein kann, der man sein will. Selbst Schroder, der gute alte Ex-Detective Inspector Schroder hat sie nicht erkannt. Sie hat gemerkt, wie er versucht hat, ihr Gesicht einzuordnen, aber das konnte er vergessen. Die Leute sehen eine dicke schwangere Braut und schauen nicht hinter die Fassade. Er hat ihr die Geschichte mit der Schauspielerin restlos abgekauft, weil sie ihm nicht den geringsten Anlass zum Zweifel gegeben hat. Sie kann heute eine andere Person als gestern sein und morgen wieder jemand anders. Auf diese Weise hatte sie all die Jahre die Freiheit, zu tun und zu lassen, was sie wollte. Auf diese Weise hat sie überlebt.
Momentan möchte sie eine Person sein, die trocken ist. Der Regen hat ihre Klamotten durchweicht. Sie zittert. Sie hat fünf Minuten gewartet, falls Schroder bemerkt, dass seine Schlüssel fehlen, aber der Detective ist nicht ohne Grund ein ehemaliger Detective. Schroders Wagen ist so unordentlich, wie sie erwartet hat. Die Matten vor der Rückbank sind mit Fast-Food-Verpackungen übersät, und da sind Kinderklamotten und ein Kindersitz. Niemand beobachtet sie. Das Wetter ist viel zu schlecht, und man will eigentlich nur von Punkt A nach Punkt B gelangen, ohne zu ertrinken. Sie hat vorhin zu Schroder gesagt, sie würde den Regen mögen, aber in Wirklichkeit hasst sie ihn. Es wundert sie, dass sie immer noch in dieser Stadt wohnt. Sie wurde hier geboren. Ist hier aufgewachsen. Wurde hier vergewaltigt. Und ihre Schwester wurde hier geboren. Ist hier aufgewachsen. Wurde hier vergewaltigt. Und sie wurde hier ermordet. Christchurch ist voller Erinnerungen, die wenigsten davon sind schön. Auf dem Parkplatz stehen noch andere Autos, trotzdem hat sie keine Angst, dass jemand zum falschen Zeitpunkt herauskommt und sie entdeckt. Sie ist hier sowieso fast fertig. Und falls Schroder nach draußen treten und sie erwischen sollte, tja, dann muss sie ihn bloß erstechen und mit ihm auf dem Rücksitz davonfahren. Das wäre schade, denn in den letzten paar Minuten hat sie sich einen ganz speziellen Plan für Schroders Zukunft ausgedacht.
Für einen Typen, der kein Cop mehr ist, ist Schroder immer noch gut informiert. Das hatte sie gehofft, nachdem Ich-will-niemanden-erschießen-Derek sie darauf gestoßen hat, dass man Joe womöglich auf einem anderen Weg zum Gerichtsgebäude bringen wird, als sie angenommen hat. Irgendwo musste sie die Information herbekommen, und sie dachte, Schroder hätte sie – schließlich hat er bei diesem Fall die Leitung innegehabt. Zudem konnte sie ihn leicht verfolgen. Sie weiß, wo er wohnt und wo er arbeitet. Allerdings nicht, warum er gefeuert wurde. Offiziell heißt es, weil er im Dienst getrunken hat – vor einem Monat ist eine ganze Horde Cops betrunken an einem Tatort aufgekreuzt –, aber sie glaubt, dass mehr dahintersteckt. Doch was genau, das weiß sie nicht. Eigentlich ist es ihr auch egal. Alles, was jetzt zählt, ist Joe, und was Schroder über Joe weiß und darüber, auf welcher Route er zum Gericht gebracht wird.
Auf dem Rücksitz liegt eine Schachtel mit Akten zu Joes Fall. Sie enthalten Kopien von Tatortberichten, jede Menge Fotos und eine detaillierte Beschreibung der Beweisstücke. Darunter ist auch ein Foto von ihr aus der Zeit, als sie noch eine andere Person war. Sie nimmt es hoch und fährt mit dem Daumen über den glatten Rand. Es wurde aufgenommen, ein paar Wochen bevor sie ihr Studium begann. Mein Gott, das ist eine Ewigkeit her. Sie war damals nicht nur eine andere Person, sie war eine völlig andere Person. Ein neuer Look, eine neue Persönlichkeit; das Foto anzuschauen ist so, als würde sie eine Fremde betrachten.
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