Opferzeit: Thriller (German Edition)
Die Person, die von dem Foto zurückstarrt, hatte Hoffnungen und Träume. Sie wollte etwas aus sich machen. Dieses Mädchen hatte nicht die geringste Ahnung – es war unschuldig, es hatte keinen Schimmer, was in ihr steckte. Trotzdem muss Melissa lächeln, als sie daran denkt, bei welcher Gelegenheit das Foto aufgenommen wurde. Das Bild ist so anders wie der Tag damals anders war. Strahlender Sonnenschein. Blauer Himmel. Es war Sommer. Eine unbeschwerte Zeit. Ihre beste Freundin Cindy hat das Foto gemacht. Melissa lehnt darauf an einem Wagen und strahlt übers ganze Gesicht, damals war sie völlig unbekümmert. Cindy und sie waren auf dem Weg zum Strand. Dort vögelte Cindy in den Dünen mit zwei Typen gleichzeitig, und die ganze Rückfahrt über weinte sie, weil sie von sich selbst angewidert war. Seit Melissa die Uni verlassen hat, hat sie Cindy nicht mehr gesehen, und sie fragt sich, was wohl aus ihr geworden ist, allerdings ist sie nicht neugierig genug, um sie zu besuchen.
Sie faltet das Foto und steckt es in ihre Jackentasche.
Nachdem sie ein paar Seiten aus der Schachtel durchgeblättert hat, findet sie, wonach sie gesucht hat. Die Route, die die Polizei zum Gerichtsgebäude fahren wird. Sie überfliegt die Seite und stellt fest, dass Derek recht gehabt hat. Sie prägt sich die Daten ein. Dann macht sie mit ihrem Handy ein Foto. Steckt die Seite wieder zurück und blättert weiter. Sie braucht noch etwas anderes. Die Handynummer und Adresse des Mannes, der ihr helfen wird. Die Idee kommt ebenfalls von Derek. Er steckte offensichtlich voller Ideen. Als sie gefunden hat, wonach sie sucht, fotografiert sie es ebenfalls.
Sie ist froh, dass sie hier rausgefahren ist. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und Schroder sich selbst überlassen, als ihr klar wurde, wohin sie fuhren, aber kehrtzumachen liegt nicht in ihrer Natur. Außerdem, wer weiß schon, wann sich wieder die Gelegenheit ergibt, Zugang zu seinem Wagen zu bekommen? Die Zeit ist knapp. Ja, Schroder ist jetzt Teil des Fluchtplans. Sie holt das C 4 heraus. Dann greift sie unter der Lenksäule hindurch hinter das Autoradio. Der rechteckige Block verformt sich ein wenig, als sie ihn dort festdrückt. Dann steckt sie den Zünder mit dem Empfänger in den nicht mehr ganz so rechteckigen Klumpen.
Sie geht zurück zu ihrem Wagen. Für ein paar Sekunden muss sie heftig gähnen – sie war die halbe Nacht auf, und mehr als alles andere auf der Welt würde sie jetzt gerne ein Nickerchen machen, aber sie darf nicht. Sie fährt an dem Häuschen mit dem Wärter vorbei, der sie auffordert, den Kofferraum zu öffnen, damit er nachschauen kann, dass sich niemand darin versteckt. Als sie auf die Schnellstraße biegt, hält sie am Straßenrand und nimmt den unbequemen Babybauch ab, und plötzlich ist sie nicht mehr im neunten Monat schwanger, nicht mehr übergewichtig und muss auch nicht mehr alle fünfzehn Minuten auf die Toilette rennen. Sie wirft den Bauch auf den Rücksitz, danach die rote Perücke.
Sie gibt eine neue Adresse in das GPS ihres Handys ein. Wie üblich dauert es ein paar Minuten, bis sie und ihre GPS-App sich einig geworden sind, aber schließlich haben sie es geschafft, und dann weiß sie, wie sie zu dem Mann fahren muss, der ihr dabei helfen wird, Joe Middleton zu erschießen. Aber erst muss sie noch in die Stadt. Um eine neue Stelle zu suchen, von der aus man Joe erschießen kann. Sie hat schon eine ziemlich genaue Vorstellung, wo das sein wird.
Kapitel 7
Der Gefängnisaufseher hat blutunterlaufene Augen, als würden seine zusammengewachsenen Brauen sich nachts im Schlaf noch weiter ausbreiten und sie kratzen. Er reicht Schro der das Tablett mit seinen Sachen. Wagenschlüssel, Brief tasche, Handy, Münzen – das heißt, die Wagenschlüssel sind nicht da. Er starrt auf das leere Tablett, dann klopft er seine Taschen ab.
»Meine Schlüssel sind nicht da«, sagt er.
Der Aufseher wirkt nicht gerade begeistert. Eher so, als hätte man ihm gerade einen Vorwurf gemacht. »Sie haben mir keine Schlüssel gegeben.«
»Ich muss sie Ihnen gegeben haben.«
»Dann wären sie aber da«, sagt der Aufseher, und seine zusammengewachsenen Augenbrauen verwandeln sich in ein V.
»Genau das meine ich. Ich habe sie Ihnen gegeben, und darum müssten sie hier sein.«
»Bei mir ist noch nie etwas weggekommen, das können Sie mir glauben! Vielleicht sind sie Ihnen runtergefallen. Vielleicht stecken sie noch in der Auto tür. Oder im Zündschloss. Vielleicht haben Sie
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