Opferzeit: Thriller (German Edition)
macht ein trauriges Gesicht und nickt bedächtig, dann hält sie ihr die Hand hin. »Ich heiße Fiona Hayward«, sagt sie.
»Stella«, sagt Melissa, einfach weil sie auf der Fahrt hierher beschlossen hat, sich so zu nennen. Sie greift nach der Hand der Frau. Sie ist warm. »Und Ihr Mann – sind Sie seinetwegen hier?«
»Er wurde vor knapp einem Monat ermordet«, sagt Fiona mit leicht stockender Stimme, und ihr schießen ein paar Tränen in die Augen. »Zu Hause. Irgendein Verrückter ist ihm nach Hause gefolgt und hat ihn erstochen.«
»Das tut mir leid«, sagt Melissa.
»Es tut allen leid«, sagt Fiona. »Wenigstens hat man den Kerl geschnappt. Und Sie?«
»Meine Schwester«, sagt sie. »Sie wurde ermordet.«
»Das tut mir leid.«
»Es tut allen leid«, sagt Melissa, dann lächelt sie die Frau an, und sie erwidert ihr Lächeln. »Das ist lange her«, fügt Melissa hinzu und denkt an ihre Schwester, an die Beerdigung und wie ihr Tod ihre Familie belastet hat.
»Ich bin heute zum ersten Mal hier«, sagt Fiona. »Ich kenne niemanden, und ich bin etwas nervös. Viele meiner Freunde und Angehörigen haben angeboten, mich zu begleiten, aber, also, ich wollte allein herkommen. Ich kann gar nicht genau erklären, warum. Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte nicht gedacht, dass ich überhaupt komme«, sagt sie und stößt ein kurzes nervöses Lachen aus, »nun, hier bin ich.«
»Ich bin auch zum ersten Mal hier«, sagt Melissa, während sie überlegt, wie sie dieses Gespräch beenden kann. Ihr fällt die Pistole in ihrem Schwangerschaftsanzug ein. Ein tröstlicher Gedanke.
»Haben Sie was dagegen, wenn … wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Yep. Sie überlegt, die Pistole hervorzuholen. »Das wäre schön«, sagt sie.
Die Anwesenden nehmen auf den Stühlen Platz. Einige haben einen Kaffee in der Hand. Ein paar rücken mit den Stühlen dichter zusammen. Und als alle sitzen, geht ein Mann herum – er ist Mitte, Ende fünfzig – und entfernt die leeren Stühle aus dem Kreis, und die anderen rutschen mit ihren Stühlen nach vorne, um die Lücken zu schließen. Er hat einen Dreitagebart und trägt eine Designerbrille und teure Schuhe. Er ist attraktiv, hat Geschmack und dunkelbraunes, an den Schläfen ergrautes Haar. Die anderen unterhalten sich weiter, bis Mr. Designerbrille Platz nimmt, dann verstummen alle. Melissa kann den Blick nicht von ihm abwenden.
»Nochmals vielen Dank, dass ihr gekommen seid«, sagt er, er hat eine tiefe Stimme, und unter anderen Umständen wäre sie wohl verführerisch. Melissa mag ihn. »Ich sehe unter euch ein paar neue Gesichter«, sagt er, »und ich wünsche mir, dass die anderen euch Hilfe und Beistand geben können, und Hoffnung. Wir sind alle hier, weil uns etwas Schlimmes widerfahren ist. Wir sind alle hier, weil wir etwas unfassbar Schreckliches erlebt haben. Für diejenigen, die mich noch nicht kennen, mein Name ist Raphael.« Er lächelt. »Meine Mutter hat Kunst studiert«, fügt er hinzu, »daher der Name«, als ob Melissa das interessieren würde. »Meine Tochter wurde ermordet«, sagt er, »darum bin ich hier.«
Er sagt diesen Satz mit der Beiläufigkeit von jemandem, der das schon hundertmal erzählt hat.
»Diese Selbsthilfegruppe«, sagt er, »wurde aufgrund eines Verlusts ins Leben gerufen. Meine Tochter hieß Angela, und sie wurde letztes Jahr von Joe Middleton getötet«, sagt er. »Er hat uns eine Tochter genommen, eine Ehefrau und eine Mutter. Einige von euch sind seinetwegen hier, andere wegen ähnlicher Männer wie Joe oder wegen ähnlicher Frauen«, sagt er, und für einen Moment glaubt Melissa, alle im Raum würden sich gleich zu ihr umdrehen, aber das passiert natürlich nicht. »Ich bin hauptberuflicher Trauerbegleiter«, fügt er hinzu. »Seit fast dreißig Jahren helfe ich anderen Menschen, doch als ich dann meine Tochter verloren habe, war ich nicht in der Lage, mir selbst zu helfen. Bis mir klar wurde, dass ich mich mit anderen Leuten treffen muss, die Ähnliches erlebt haben. Wir sind also hier, um uns gegenseitig zu helfen«, sagt er und lächelt, während er den Blick von einem Gesicht zum nächsten wandern lässt, auf Melissas lässt er ihn etwas länger verweilen, denn sie strahlt etwas aus, das man nicht so schnell erfassen kann. »Wir sind nicht hier, damit der Schmerz verschwindet, denn das wird er nicht. Wir sind hier, um ihn zu teilen, um ihn zu verstehen. Wir sind hier, weil wir es brauchen.«
Melissa muss ein Gähnen unterdrücken, während
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