Opferzeit: Thriller (German Edition)
sie die Gesichter im Raum betrachtet. Sie hatte keine Zeit für ein Nickerchen, und das Einzige, worauf sie hoffen darf, ist, dass das hier nicht allzu lange dauert. Sie ist so müde, sie könnte die nächsten vierundzwanzig Stunden durchschlafen. Aber unter all diesen Leuten ist eine Person, die ihr helfen wird. Sie muss nur eine Stunde ihrer Zeit erübrigen. Oder wie lange auch immer solche Treffen dauern. Davon, über ihn zu sprechen, geht der Schmerz nicht weg. Als ihre Schwester getötet wurde, musste sie ein Jahr lang jede Woche mit einem Seelenklempner reden, und es hat kein bisschen geholfen. Das Einzige, was der Psychoheini getan hat, war, ihr die ganze Zeit auf die Beine zu starren.
Alle schauen zu Raphael. Da sind jede Menge warmer Körper, unter denen sie auswählen kann, und sie ist sich sicher, dass einer von ihnen wütend genug auf Joe ist, um ihn zu erschießen.
Das Kunststück ist nur, herauszufinden, wer.
Kapitel 15
Das erste Hindernis, das Schroder überwinden muss, ist der Ring aus Übertragungswagen, die hier aufgekreuzt sind. Sie und die Schaulustigen aus der Umgebung blockieren das Ende der Straße. Angesichts der vielen Morde in Christchurch wundert es ihn, dass die Leute überhaupt noch einen Fuß vor die Tür setzen, um sich das Spektakel anzusehen, erst recht bei diesem Wetter. Aber es gibt wohl nichts Besseres als einen anständigen Mord. Das kommt in natura klasse und im Fernsehen ebenso. Die Reporter halten Schirme in die Höhe, die Kameraleute sind in nasse Regenklamotten gehüllt, und die Kameras werden von Plastiküberzügen geschützt. Was die Stadt jetzt braucht – nein, falsch –, was die Menschheit jetzt braucht, ist ein Blitz, etwas Gewaltiges, Biblisches, das von hoch oben aus dem Himmel auf sie niederfährt. Schroder fragt sich, ob Jonas Jones das vielleicht arrangieren könnte.
Er kommt mit dem Wagen nicht an den Leuten vorbei. Es gibt kein Durchkommen, und die einzige Erfolg versprechende Möglichkeit wäre, sie mit der gerade zulässigen Höchstgeschwindigkeit über den Haufen zu fahren, sodass sie wie Bowlingkegel umfallen. Er hat keine Sirene, und darum muss er auf der falschen Seite der Menschenmenge parken, mit den Leuten und reichlich Regen zwischen sich und dem Tatort.
Die Erschöpfung, die er in den letzten Monaten als Cop verspürt hat, hat er keineswegs zusammen mit seiner Pistole und der Marke abgegeben, stattdessen begleitet sie ihn wie eine Erkältung, die nicht weggehen will. Er langt in seine Tasche und zieht eine Packung Wake-E-Koffeintabletten heraus, die er momentan immer griffbereit hat, und nimmt eine davon, dann spült er sie mit einer weiteren runter. In fünf Minuten wird die Erschöpfung zwar nicht verschwunden, aber in seinem Innern eingeschlossen sein, zusammen mit der Erschöpfung, die er im Laufe der Jahre angesammelt hat.
Er steigt aus dem Wagen in den Regen und drängelt sich durch die Schaulustigen. Die Beamten, die die Absperrung bewachen, müssen zweimal hinschauen, während er auf sie zuläuft – sie wissen zwar, dass er kein Cop mehr ist, aber womöglich denken sie, dass sich das inzwischen geändert hat. Bevor er eine Erklärung abgeben kann, kommt Kent auf ihn zu; ein Schirm schützt sie vor dem Regen. Sie wechselt ein paar kurze Worte mit den Beamten, dann hebt Schroder das Absperrband an und taucht darunter hindurch. Das Haus befindet sich in einer ruhigen Gegend, es ist nicht das, in dem die Walkers früher gewohnt haben. Das wurde in der Nacht, in der Detective Calhoun verschwand, niedergebrannt. Von Joe, keine Frage. Inzwischen wurde das Grundstück verkauft. Dieses Haus ist halb so groß, hat nur ein Stockwerk und ist höchstens fünf Jahre alt ist; hier sind die Häuser alle in denselben Farben gestrichen, helle Braun- und Grautöne, die wirken, als seien sie vom Regen ausgewaschen.
Kent hebt den Schirm, sodass er sie beide notdürftig bedeckt. An der Tür muss Schroder seine Schuhe ausziehen und in ein Paar Kunststoffüberzieher schlüpfen. Die Leiche liegt in der Diele, direkt hinter der Haustür. In diesem Moment tritt Hutton zu ihnen.
Schroder hat das Gefühl, als wäre er wieder in seinem alten Job. Die Gerüche, der Anblick und die Geräusche beweisen, dass er sich an einem echten Tatort befindet und dass niemand einen Kreideumriss ziehen und ihn fragen wird, ob sich der Dialog nicht etwas kürzen ließe. Ihm ist kalt, er ist durchnässt, und er fühlt sich elend, was den realistischen Eindruck abrundet. Er kann
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