Opferzeit: Thriller (German Edition)
sich nicht bloß um eine Selbsthilfegruppe für Opfer von Joe Middleton, sondern auch für andere Opfer – oder genauer gesagt für Familienangehörige von Opfern, die sich offensichtlich selbst ebenfalls als Opfer bezeichnen. Sie treffen sich in einem Gemeindezentrum in Belfast, einem Vorort im Norden der Stadt, der an wirklich schlechten Tagen nach der mehrere Kilometer entfernten Müllkippe stinkt und an den übrigen schlechten Tagen einfach nur Belfast ist. Auf dem Parkplatz vor dem Zentrum stehen zwanzig Autos, und mit ihrem sind es einundzwanzig. Es regnet immer noch, und es ist immer noch kalt, aber laut Vorhersage soll das Wetter in den nächsten Tagen besser werden.
Melissa nimmt ihren Regenschirm – eigentlich gehörte er bis heute morgen Walker – und läuft zu dem Gebäude; sie hat den Blick die ganze Zeit auf den Boden gerichtet, um den Pfützen auszuweichen, die sich gebildet haben, wo der Asphalt weggeplatzt ist. Sie geht neben einem älteren Paar her, das sich Arm in Arm einen Regenschirm teilt. Die beiden nicken ihr zu und lächeln freundlich. Melissa fragt sich, ob sie hier sind, weil sie ihren Sohn getötet hat. Sie trägt schon wieder eine andere Perücke – diesmal eine schwarze.
Der ältere Mann hält seiner Frau die Tür auf und Melissa ebenfalls; sie lächelt ihn an und bedankt sich, und sie kann sich nicht erinnern, jemandem etwas angetan zu haben, der ihnen ähnlich sieht. Sie tritt in den Saal, der groß genug ist, um darin eine Hochzeitsfeier abzuhalten, und hässlich genug, um dort eine Volljährigkeitsparty zu veranstalten. Sämtliche Wände sind mit Holz vertäfelt. Der Boden im Eingang ist mit nassen Fußspuren übersät, und sie geht vorsichtig um sie herum, weil sie nicht will, dass sie vor diesen Leuten hinfällt und vorzeitige Wehen vortäuschen muss. Sie spürt und hört, wie die Heizlüfter heiße Luft in den Saal blasen, und trotzdem ist es kalt hier. Sie schließt ihren neuen Schirm und lehnt ihn gegen die Wand, wo ein Dutzend ähnlicher Exemplare steht. Sie zieht ihre Jacke aus und legt sie über den Arm. Im Saal sind etwa dreißig Leute, vielleicht auch fünfunddreißig. Einige stehen in Zweier- oder Dreiergrüppchen zusammen und unterhalten sich mit einer gewissen Vertrautheit. Andere sind alleine. Am hinteren Ende des Raums sind mehrere Stühle zu einem Kreis aufgestellt, und dahinter befindet sich eine Bühne, auf der, wie sie vermutet, sonst Bands auftreten und Pfarrer ihre Ansprachen halten. Momentan sind es mehr Stühle als Leute. Auf einem langen Tisch sind Kaffee und Sandwiches bereitgestellt. Sie fragt sich, ob all diese Leute in ein paar Jahren private Kontakte knüpfen und ob die Treffen im Sommer dann bei einem Picknick im Park abgehalten werden. Von fröhlichen geselligen Grüppchen und Freunden fürs Leben, die durch Tod und Leid zusammengefunden haben; vielleicht heiraten einige von ihnen untereinander und bekommen zusammen Kinder. Sowohl Joe als auch sie haben ihren Beitrag dazu geleistet. Das sollte sie mit Stolz erfüllen.
»Wann ist es bei Ihnen so weit?«
Die Stimme ertönt nur einen Meter von ihr entfernt zu ihrer Linken, und beinahe hätte sie sich erschreckt. Melissa wendet sich der Frau zu und lächelt. Sie weiß wirklich nicht, was zum Henker mit den Weibern los ist, warum sie ihr ständig diese Frage stellen, wenn sie ihren Bauch sehen. Sie scheinen zu glauben, es würde sie tatsächlich etwas angehen. Frauen, die selbst eine Geburt hinter sich haben, meinen offensichtlich, das gebe ihnen das Recht, jede Schwangere einfach anzuquatschen.
»Der Termin ist nächste Woche«, sagt sie und reibt sich den Bauch.
Die Frau lächelt. Sie kann höchstens vier oder fünf Jahre älter als Melissa sein. Sie trägt einen Ehering, und Melissa fragt sich, ob sie selbst schon einmal schwanger war, oder ob sie es sich wünscht, und sie fragt sich, ob der Mann, von dem sie schwanger werden wollte, nicht mehr unter ihnen weilt.
»Junge oder Mädchen?«, fragt sie.
»Ich lasse mich überraschen«, sagt Melissa lächelnd, denn es wäre wirklich eine Überraschung. Sie trägt ebenfalls einen Ehering und fängt an, ihn am Finger herumzudrehen. Sie hat gesehen, dass Eheleute so etwas tun. »Wir wollten es beide so.«
»Ich habe gesehen, dass Sie alleine reingekommen sind«, sagt die Frau, und das Lächeln weicht aus ihrem Gesicht. »Ihr Mann, Sie sind … Sie sind nicht seinetwegen hier, oder?«
»Nein, nein, Gott sei Dank nicht«, antwortet Melissa.
Die Frau
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