Opferzeit: Thriller (German Edition)
andere Wahl bleibt, wird sie es tun und auf das Beste hoffen. Aber jetzt spielt sie erst mal auf Zeit – mal abwarten, wohin das führt. Sie hat ein feines Gespür für Situationen, und das sagt ihr gerade, dass sich diese hier vielleicht zum Guten wendet.
»Sie könnten mir zunächst einmal erklären, was es mit diesem Aufzug auf sich hat«, sagt er und deutet mit dem Daumen auf den Rücksitz. »Sind Sie Reporterin? Schreiben Sie ein Buch? Wer sind Sie wirklich?«
»Nichts davon«, sagt sie.
»Ich kenne eine Menge Opferfamilien«, sagt er. »Wir haben Daniela Walkers Mann gefragt, ob er zu uns kommen will, ihn und die Kinder. Er hat abgelehnt. Aber ihre Eltern sind gekommen. Sie waren auch heute Abend da. Das hätten sie gemerkt, wenn Sie wirklich ihre Schwester wären«, sagt er. Melissa war schon vorhin sofort klar, dass es ein Fehler war, ihm einen Namen zu nennen, aber er hat sich nicht anmerken lassen, dass er sie da bereits durchschaut hat. Das war gut, verdammt gut. Sie muss deswegen aufpassen. »Also, noch mal, wer sind Sie wirklich?«
»Ich heiße wirklich Stella«, sagt sie.
»Blödsinn.«
Sie schüttelt den Kopf. »Doch«, sagt sie überzeugend genug, um ihn zu überzeugen – aber vielleicht weiß er schon wieder, dass sie lügt, und lässt es sich nicht anmerken.
»Aber Joe Middleton hat Ihre Schwester nicht getötet.«
»Nein«, sagt sie. »Das hat er nicht. Aber …« Sie wischt sich über das Gesicht und verreibt ein paar Regentropfen in der Hoffnung, sie würden wie Tränen aussehen, »aber er hat, er hat mein Baby getötet«.
»Blödsinn«, sagt er.
»Doch«, sagt sie. »Er … er hat mich vergewaltigt. Ich war schwanger. Im vierten Monat, und ich, ich habe das Baby verloren. Darum trage ich … darum trage ich diesen Babyanzug, denn ich wäre jetzt fast im neunten Monat, aber das bin ich nicht. Ich bin es nicht, weil er mein Baby getötet hat. Und mein Mann hat mich verlassen, er wollte mich nach dieser Sache nicht mehr anrühren, weil er mir in gewisser Weise die Schuld daran gab, außerdem verachtete er mich dafür, dass ich nicht zur Polizei ging. Es tut mir leid, dass ich gelogen habe, es tut mir leid, dass ich einen Schwangerschaftsanzug getragen habe, aber damit fühle ich mich besser, damit habe ich das Gefühl, dass die Dinge so sind, wie sie eigentlich sein sollten, dass mein Leben weiter dem Kurs folgt, auf den ich es durch harte Arbeit gebracht habe. Aber das tut es nicht, die Dinge sind nicht so, wie sie sein sollten, weil dieser Scheißkerl mir wehgetan hat. Er hat mir mein Baby genommen, und er hat mir wehgetan, und ich will, dass er krepiert. Ich will, dass er krepiert, aber ich dachte, es würde mir helfen, ihm zu verzeihen, oder mir selbst, wenn ich heute Abend hierherkomme, aber jetzt will ich ihm mehr denn je eine Kugel verpassen. Eine Menge Kugeln. Ich will, dass er krepiert, und ich habe … ich habe wohl jemanden gesucht, dem es genauso geht. Ich habe einen Plan«, sagt sie, »einen Plan, um Joe zu töten, und ich … ich brauche jemanden, der mir dabei hilft.«
Raphael schweigt. Fünf Sekunden vergehen. Zehn. Sie ist überzeugt, dass er ihr glaubt. Er denkt gerade gründlich darüber nach. Es gibt ein paar Möglichkeiten, aber nicht viele.
»Es … es tut mir leid«, sagt er schließlich.
»Er hat mein Baby getötet«, sagt sie.
»Sie hätten uns davon erzählen sollen.«
»Euch davon erzählen? Wie bitte? Ich hätte da reingehen und allen erzählen sollen, dass ich einen Schwangerschaftsanzug trage, weil ich nicht wahrhaben will, dass mein Baby gestorben ist, und dass ich manchmal so tue, als wäre ich immer noch schwanger, weil das ein Trost für mich ist?«
Er antwortet nicht. Was sollte er auch sagen?
Sie lässt die Stille wirken. Der Regen prasselt weiter auf das Autodach. Die Beifahrertür steht immer noch offen, und hin und wieder weht eine Bö einen Schwall Wasser in den Wagen. Raphael spielt in seinem Kopf mehrere Szenarien durch. Und sie ein paar andere. Er überlegt, ob er ihr helfen oder gehen soll. Sie überlegt, ob sie ihm mit ihren Schlüsseln erst in die Augen oder in die Kehle stechen soll.
»Und wenn Sie jemanden gefunden haben, der Ihnen hilft, was dann?«
»Ich möchte nicht, dass es zum Prozess kommt. Ich will, dass Joe stirbt, und ich will diejenige sein, die dafür sorgt. Ich will nicht, dass sein Anwalt ihn wegen irgendeiner Formsache da raushaut. Ich will nicht, dass er freikommt und abtaucht. Ich will ihn töten.«
»Und Sie
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