Opferzeit: Thriller (German Edition)
von South Brighton, an der Grenze zu New Brighton, allerdings gibt es in keinem der beiden Vororte wirklich etwas, das wahnsinnig neu wäre. Von Haus zu Haus waren es mit dem Fahrrad zehn Minuten. Das von Tante Celeste hatte ein Dach aus Betonschindeln und eine Holzverkleidung, Fensterrahmen aus Aluminium und Fenster, von denen meine Tante jeden Tag die Salzgischt wischte. Das Schloss an der Hintertür war recht gut und stabiler als die Angeln; wenn man also kräftig dagegentrat, würden die Schrauben wohl aus dem Rahmen reißen und die Tür würde nachgeben. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit – ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel meiner Mutter. Meine Mutter und ihre Schwester hatten ihre Schlüssel ausgetauscht, nachdem Celestes Mann unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben war. Sie fühlten sich sicherer, wenn sie wussten, dass sie im Notfall Zugang zum Haus der anderen hatten.
Und das hier war ein Notfall.
Kurz nach Mitternacht schlich ich mich aus meinem Schlafzimmer. Das war ein Kinderspiel, ich musste nur das Fenster öffnen und mich sportlich nach unten gleiten lassen. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu einem Park, einen Block vom Haus meiner Tante entfernt. Nachts muss man in den Parks von Christchurch auf der Hut sein. Schon damals wusste ich das, und seitdem habe ich dort auch ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht. Da ich niemanden entdecken konnte, versteckte ich mein Fahrrad hinter ein paar Sträuchern. Ohne es abzuschließen. Den Rest des Wegs ging ich zu Fuß. Die Straße war ziemlich verlassen. Die Leute schliefen schon, weil sie am nächsten Tag zur Arbeit oder in die Schule mussten. Es war Sonntagabend. An einem Sonntagabend sind die Leute weniger wachsam als an jedem anderen Abend in der Woche. In ein paar Häusern brannte noch Licht, aber nicht bei meiner Tante. Ich konnte das Meer hören, die Wellen, die mit der Flut herangespült wurden. Sie krachten gegen das Ufer nur ein paar Hundert Meter entfernt, und jede einzelne übertönte sämtliche meiner Geräusche.
Auf der Rückseite des Hauses war es dunkel. Der Weg von der Vorder- zur Rückseite wurde weder von einem Tor noch von einem Zaun versperrt. Zwischen den Grundstücken befanden sich zu beiden Seiten Zäune, und auf der Rückseite war ebenfalls einer. Alle Zäune in diesem Teil des Viertels waren verwahrlost, durch die Sonne und die Salzluft hatten sich die Bretter so verzogen, dass man daraus einen Bogen hätte bauen können. Der Garten bestand größtenteils aus Flächen braun verbrannten Grases. Es gab dort ein altes Gemüsebeet, das von Unkraut und Kartoffeln aus dem Vorjahr überwuchert war; der ganze Stolz meines Onkels, aber nicht meiner Tante. Sie ließ der Natur ihren Lauf, so wie die Natur bei meinem Onkel ihren Lauf genommen hatte.
Als ich die Hintertür erreichte, schloss ich sie mit meinem Schlüssel auf und trat ins Innere. Ich war scheißnervös. So nervös, dass ich mich in dem Park, in dem ich mein Rad abgestellt hatte, übergeben hatte. Ich kannte den Grundriss des Hauses. Meine Eltern hatten mich im Laufe der Jahre unzählige Male hierhergeschleppt. Die Schlafzimmer lagen im hinteren Bereich, doch nur eines von ihnen wurde als Schlafzimmer genutzt, das andere war eine Nähstube, die meiner Tante allerdings nicht wirklich zum Nähen diente, sondern meinem Onkel früher zum Trinken. Durch die Hin tertür ging ich ins Wohn- und Esszimmer. Ohne eine der Lampen anzuschalten. Ich hatte eine kleine Taschenlampe dabei, allerdings kein Messer, denn ich brauchte keine Waffe. Ich war sechzehn Jahre alt und hatte bisher nicht das Verlangen verspürt, jemanden zu töten – nicht ernsthaft, abgesehen von den Mitschülern, die mich schikanierten, und vielleicht von ein paar der Nachbarn. Durch meine Fantasien über die Mitschülerinnen, mit deren Unterwäsche ich mich in ihren Schlafzimmern vergnügt hatte, geisterten vielleicht ein paar böse Gedanken, allerdings nicht, sie zu erstechen. Nicht damals.
In der Vorratskammer in einem Behälter für Teebeutel bewahrte meine Tante ein Bündel Geldscheine auf. Jedes Mal wenn meine Mutter einkaufen ging, gab sie ihr daraus etwas Geld und bat sie, eine Packung Zigaretten oder etwas Zucker mitzubringen oder was Tante Celeste eben gerade brauchte. Ich öffnete den Deckel und nahm das Geld heraus, ohne es jedoch zu zählen. Es gab keinen Grund dazu. Ich wollte wieder raus. Ich war nervös, und die Küche stank wie immer nach Zigarettenqualm. Ich schloss die Vorratskammer und hatte
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