Opferzeit: Thriller (German Edition)
ist. Er weiß, dass Joe in ihr Haus eingebrochen ist. Er hat ihre Katze getötet, bevor er sie aus dem Badezimmer gezerrt hat. Er weiß genau, was er ihr angetan hat. Wie er sie ans Bett gefesselt, wie er ihr ein Ei in den Mund gestopft hat, wie er in sie eingedrungen ist …
Der dritte Schuss geht daneben. Ein ganzes Stück zu weit nach rechts. Er nimmt sein Gesicht vom Fernrohr. Und starrt unter sich auf den Boden.
»Was ist los?«, fragt Stella.
Er schaut zu ihr hoch. »Nichts«, sagt er. »Nur … nichts. Gib mir eine Sekunde.« Er holt tief Luft, und er möchte laut losschreien. Er möchte jetzt sofort zum Gefängnis fahren, mit dem Gewehr zu den Zellen marschieren und Joe an Ort und Stelle abknallen, dem Wichser in die Knie schießen, auf ihnen herumtrampeln, ihm immer und immer wieder ins Gesicht schlagen, er möchte ihm die Augenlider abschnei den, ihm die Eingeweide herausreißen, ihn ersäufen, ihn wiederbeleben und bei lebendigem Leibe verbrennen. Alle erdenklichen schrecklichen Dinge will er mit ihm anstellen. Die Rote Raserei will diesen Wichser möglichst lange leben lassen, auf ihn einstechen und auf ihm herumtrampeln, ihn zerstückeln und ihm wehtun.
Und Stella – die wunderbare, wunderbare Stella wird ihm die Gelegenheit dazu geben.
Er schaut wieder durchs Fernrohr. Drückt erneut ab und schießt genauso weit daneben wie zuvor. Verdammt. Er schließt die Augen. So geht das nicht. Nicht wenn er wü tend ist.
»Raphael?«
Er kniet sich hin. »Gib mir einen Moment«, sagt er und steht auf, diesmal knackt das andere Knie, allerdings ist er jetzt so wütend, dass es ihm nicht peinlich ist. Er starrt zum Fundament der Hütte hinüber; hinter den langen Grashalmen, von ihnen verdeckt, befinden sich bestimmt noch Teile der Mauern. Schießt er jetzt daneben, dann tut er das auch, wenn sich die Gelegenheit zum Schuss ergibt.
Stella legt ihm die Hand auf die Schulter. »Du schaffst das«, sagt sie. »Du musst dich nur konzentrieren.«
»Das tue ich«, sagt er, aber er konzentriert sich auf das Falsche. Er muss aufhören, an seine Tochter zu denken, wie sie nackt unter Joe liegt, und an ihre Angst und daran, dass Joe das Letzte war, was sie in ihrem Leben gesehen hat, und dass sie das wusste. Er darf nicht daran denken, dass keiner der vielen Menschen, die sie liebten, da war, um ihr zu helfen. Er muss an Joe denken. Joe mit einer Kugel im Kopf. Joes Kopf in einer Pappschachtel. Joe, dem lauter schreckliche Dinge geschehen.
Nichts davon macht Angela wieder lebendig.
Er legt sich wieder hin, und wieder knackt sein Knie. Er schaut durch das Fernrohr. Und visiert eine Dose an, die an einem Baum hängt. Diese Dose ist Joes Kopf. Das stellt er sich jetzt vor. Er muss seine Wut loslassen. Nicht für immer, aber im Moment, wenn er sich hinter dem Lauf des Gewehrs befindet. Einatmen. Ausatmen. Ruhig bleiben. Den Kopf leeren. Was du hier machst, ist gut. Konzentrier dich darauf. Bleib ruhig, und das hier wird der Anfang von etwas Großartigem werden. Er wird mit der Sache zwar nicht abschließen, das wird er nie, aber er kann Rache nehmen. Die Rache wartet auf ihn. Er muss nur danach greifen.
Er drückt den Abzug. Die Dose steht zwar noch da, aber die Kugel hat sie gestreift. Er drückt erneut ab. Und diesmal fliegt die Büchse aus dem Blickfeld. Dann schießt er eine weitere ab. Und noch eine. Sein Herzschlag wird langsamer. Wenn er wollte, könnte er jetzt wahrscheinlich an die tausend Dosen wegballern.
Er ist jetzt ruhig. Und wenn man ruhig ist, ist das hier einfach. Er leert den Rest des Magazins. Und nicht eine einzige Dose steht noch da. Stella zeigt ihm, wie man das Magazin herausnimmt. Dann lädt er es eigenhändig. Er schießt auf weitere Dosen, auf die Dosen, die er bereits getroffen hat. Erneut leert er das Magazin.
Dann rollt er sich auf die Seite und schaut zu Stella hoch. Er denkt an die Rote Raserei. Die Rote Raserei ist glücklich. »Wir werden es wirklich tun«, sagt er.
»Das werden wir«, sagt sie, und er lädt erneut das Magazin und schießt weiter.
Kapitel 26
Vor zwölf Monaten konnte ich mich nicht mal mehr daran erinnern, dass mir das überhaupt passiert ist. Vor zwölf Monaten war ich mit wichtigeren Dingen beschäftigt, mit einem wunderbaren Zeitvertreib – jener Art von Zeitvertreib, die dazu führte, dass eine ganze Polizeieinheit Jagd auf mich machte. Seit man mich eingesperrt hat, hatte ich Zeit zum Nachdenken – ja, Zeit ist das Einzige, was ich habe. Meine Vergangenheit
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