Opferzeit: Thriller (German Edition)
hätte ich verkraften können. Vielleicht würden sie die Polizei verständigen. Davor hatte ich Angst. Lieber hätte ich mich erschießen lassen, als hinzunehmen, was die Polizei mit mir anstellen würde. Mit sechzehn dachte ich so. Also überlegte ich, wie ich an die Armbrust kommen und das Haus mit meiner toten Tante darin verlassen könnte, ohne dass man mir auf die Schliche käme.«
»Sie hatten Schuldgefühle«, sagt Ali-Ellen.
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Natürlich. Ich fühlte mich mies, echt mies.«
»Hmm«, sagt sie und macht sich Notizen, dann schaut sie wieder zu mir auf. »Sagen Sie, Joe, hatten Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie Ihre Tante bestohlen hatten, oder weil man Sie erwischt hatte?«
Das ist eine gute Frage. Den größten Teil des Jahres war ich in die Häuser anderer Leute eingebrochen, überzeugt, man würde mich nie erwischen. Schon gar nicht eine Frau, die dreimal so alt war wie ich. Doch nun sah es so aus, als würde man mich schnappen, selbst wenn ich es schaffen sollte, an die Armbrust zu kommen.
»Wegen beidem«, sage ich.
»Hm hm. Okay, und was passierte dann?«
»Meine Tante fragte mich, was meine Eltern wohl sagen würden, falls sie ihnen davon erzählte«, sage ich, und während ich das sage, reise ich in der Zeit zurück, zu jenem Moment, der dazu führte, was ich später als Urknall bezeichnen sollte. Die genauen Worte meiner Tante waren: Was würden deine Eltern wohl sagen, falls ich ihnen davon erzähle? Sie sagte nicht, wenn ich ihnen davon erzähle , sondern falls .
Sie würden mich dafür hassen, erklärte ich meiner Tante. Und vielleicht schmeißen sie mich raus. Das glaubte ich zwar nicht, aber ich wollte, dass meine Tante Mitleid mit mir hatte.
Wahrscheinlich werden sie das tun, sagte sie, ohne die Armbrust runterzunehmen . Bist du bewaffnet, Joe? , fragte sie.
Nein.
Warst du schon mal mit einer Frau zusammen, Joe?
Was?
Mit einer Frau. Hast du schon mal mit einer Frau geschlafen?
Ich bin erst sechzehn, sagte ich.
Das hat nichts zu bedeuten, sagte sie. Heutzutage sieht man in jeder Fernsehserie vögelnde Teenager. So haben sich die Soaps inzwischen verändert. In den Geschichten geht es nicht mehr um Erwachsene, sondern um Jugendliche, die sich wie Erwachsene aufführen. Vor vierzig Jahren ging es noch um die Konflikte von Leuten, die sich abgerackert haben, um eine Kneipe oder eine Firma am Laufen zu halten, aber heutzutage geht es nur noch ums Ficken. Weißt du, wann dein Onkel Neville gestorben ist?
Hast du das vergessen?, fragte ich.
Nein, nein, natürlich hab ich es nicht vergessen. Er ist jetzt sechs Jahre tot.
Warum hast du mich dann gefragt?
Das spielt keine Rolle , sagte sie. Was ich damit sagen will, ist, dass er mir fehlt. Mir fehlt ein Mann im Haus. Hier verkommt alles langsam. Sie nahm die Armbrust herunter. Und ich fragte mich, wie tief sich der Pfeil wohl in den Boden bohren würde, wenn sie nun abdrückte. Das war beruhigender, als sich zu fragen, wie tief er sich in mich gebohrt hätte. Wie viel Geld hast du da, Joe?
Keine Ahnung.
Zähl es.
Und ich zählte das Geld. Ich musste es zweimal machen, denn ich war so nervös, dass ich beim ersten Mal durcheinanderkam. Ich hatte mir alle Scheine geschnappt und die Münzen liegen lassen. Es waren dreihundertzehn Dollar. Ein hübsches Sümmchen. Ich nahm an, damit würde ich fast das ganze Schuljahr überstehen können.
Das heißt, du schuldest mir Hausarbeit im Wert von dreihundertzehn Dollar. Es gibt hier eine Menge, was getan werden muss. Das Haus ist seit zehn Jahren nicht mehr gestrichen worden. Der Gemüsegarten draußen ist ein einziger Dschungel. Also: Wenn ich dich brauche, tanzt du hier an, und du wirst mir keinen Korb geben. Kein einziges Mal. Verstanden, Joe? Du hilfst mir, und ich helfe dir, indem ich deinen Eltern nichts davon erzähle, dass ich dich hier erwischt habe. Abgemacht?
Ich soll also die dreihundertzehn Dollar abarbeiten , sage ich. Das macht, was? Ein paar Wochen Arbeit?
Nein, Joe, du hast sie erst abgearbeitet, wenn ich es sage. Ich muss mir einen Stundensatz überlegen. Vielleicht fünf Dollar pro Stunde. Vielleicht aber auch nur einen. Ich werde dich wissen lassen, wenn du alles, was getan werden soll, erledigt hast. Die Entscheidung darüber liegt allerdings bei dir. Wir können es nämlich auch anders machen, dann rufe ich jetzt sofort die Polizei, und wir sehen, was dabei herauskommt.
Ich sah keine andere Möglichkeit. Rasenmähen und Wändestreichen
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