Opferzeit: Thriller (German Edition)
gerade den halben Weg zur Hintertür zurückgelegt, als die Lichter angingen. Im Esszimmer stand meine Tante. Sie trug einen rosafarbenen Morgenrock und Lockenwickler, und in den Händen hielt sie eine Armbrust. Es war zwar meine Tante – aber ich erkannte sie nicht. Sie machte ein strenges Gesicht.
»Eine Armbrust?«, fragt die Psychiaterin. »Ihre Tante hatte eine Armbrust?«
»Ich wusste nicht, dass sie eine besaß«, sage ich. »Hätte ich es gewusst, wäre ich nicht zu ihrem Haus gegangen.«
»Aber eine Armbrust? Im Ernst?«
Ich verstehe ihre Überraschung. Tanten sind nicht gerade die Art von Personen, die eine Armbrust besitzen. Außer denen, die eine haben. Und meine Tante war eine davon. »Ich lüge nicht«, sage ich.
»Nein, das habe ich auch nicht gedacht. Warum, glauben Sie, hatte sie eine Armbrust? Ging Ihr Onkel auf die Jagd?«
»Nicht dass ich wüsste. Keine Ahnung, warum sie sie hatte, und ich habe sie auch nie gefragt. Ich kann mich erinnern, die Armbrust vor fünf Jahren gesehen zu haben, als sie gestorben ist. Wir mussten in ihrem Haus ihre ganzen Sachen durchgehen. Sie sah immer noch genauso aus wie damals. Ich habe keine Ahnung, ob sie sie je benutzt hat.«
»War Ihre Mutter überrascht darüber?«
»Wenn ja, dann hat sie es nicht gesagt.«
»In jener Nacht in ihrem Haus, was haben Sie da getan?«
»Sie forderte mich auf, stehen zu bleiben, und genau das habe ich getan. Ich dachte, ich müsste mich erneut übergeben. Aber ich war mir sicher, dass sie mich bei der kleinsten Bewegung, beim kleinsten Blinzeln, erschossen hätte. Ich hatte genug Filme gesehen, um zu wissen, was gleich passieren würde. Sie würde den Abzug drücken, und für eine halbe Sekunde würde ein Zischen ertönen, und dann würde ich mir den Bauch halten und mit den Fingern das Ende des Pfeils umklammern. Ich habe sogar die Luft angehalten, um sie durch mein Atmen nicht noch zusätzlich zu provozieren.«
»Und wie ging es weiter?«
»Erst mal passierte gar nichts. Für etwa zehn Sekunden sagte keiner von uns beiden einen Ton, dann rief sie meinen Namen. Ich denke, sie brauchte nicht so lange, um mich zu erkennen, sondern um zu begreifen, dass das wirklich möglich war. Ich denke, sie hat mich sofort erkannt, konnte es aber nicht glauben und hat dann überlegt, ob es nicht eine andere, wahrscheinlichere Möglichkeit gab, eine Möglichkeit, bei der sie nicht wieder bei mir landete. Aber die Armbrust nahm sie immer noch nicht herunter.
Sie meinte, sie würde die Polizei anrufen. Und ich bat sie, es nicht zu tun. Aber sie sagte, es sei nur zu meinem Besten. Ich flehte sie an, es nicht zu tun. Sie sagte, sie sei enttäuscht von mir. Überaus enttäuscht. Es war nicht das erste Mal, dass ich so was hörte, aber das sagte ich ihr nicht. Sie meinte, meine Eltern würden am Boden zerstört sein. Worauf ich ihr erklärte, dass ich das Geld dringend bräuchte. Und wofür, ich erzählte von den Schlägern und ihren Drohungen und dass das Geld die einzige Möglichkeit war, sich durch die Schule zu bewegen, ohne dass man mir vor allen anderen die Hosen runterzog, mich gegen die Wand schubste oder mir Hundescheiße ins Haar schmierte. Sie nickte, offensichtlich hatte sie Verständnis dafür, trotzdem hielt sie immer noch die Armbrust auf mich gerichtet. Sie meinte, das, was ich ihr erzählt hätte, sei schrecklich, und die Schule sei offensichtlich kein Zuckerschlecken, aber egal wie schlimm es auch sei, das sei keine Entschuldigung dafür, in ihr Haus einzubrechen. Ich hatte immer noch ihr Geld in der Hand. Es fühlte sich warm an, es war zu einem Kügelchen zusammengeknüllt, und meine Hand war verschwitzt. Meine Hände zitterten leicht, ihre hingegegen waren vollkommen ruhig. So als wäre ich bereits der vierte oder fünfte Einbrecher, den sie in jener Nacht erwischt hatte.«
Ich hatte zwar Angst, dass sie auf mich schießt, aber hätte man mir die Wahl gelassen, hätte ich mich lieber erschießen lassen als zuzulassen, dass meine Eltern davon erfuhren. Meine Tante würde ihnen auf jeden Fall davon erzählen. Fieberhaft suchte ich nach einem Ausweg, nach einer Verhandlungsposition. Aber mir fiel nichts ein, außer zu versuchen, irgendwie an die Armbrust zu kommen. Morgen früh würden meine Eltern von meinem Einbruchsversuch erfahren. Ich hatte keine Ahnung, was dann geschehen würde, aber bestimmt nichts Gutes. Sie würden mir Hausarrest erteilen, aber das wäre nicht schlimm. Sie wären enttäuscht von mir, aber auch das
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