Opferzeit: Thriller (German Edition)
ist ein Wust aus Erinnerungen, die so weit zurückliegen, dass ich das Gefühl habe, es wären die Erinnerungen eines anderen, oder vielleicht Szenen aus dem Fernsehen, die ich mir zu eigen gemacht habe.
Ich war sechzehn und hatte noch nie etwas Verbotenes getan – außer ein paar Einbrüchen und Ladendiebstählen, und ich hatte eine Scheune mit Ziegen abgefackelt, aber von den Ziegen wusste ich da noch nichts. Nachts habe ich mich immer aus meinem Zimmer geschlichen und bin ohne konkretes Ziel umhergestreift, ich bin einfach nur gelaufen, war eins mit dem Viertel und habe an die gedacht, die dort lebten. Jedes Mal konnte ich das Meer hören, das nur ein paar Blocks entfernt war. Manchmal ging ich auch den Strand entlang und starrte hinaus auf das Wasser und den Mond darüber. In stillen Nächten, bei Vollmond, wurde das Licht von dem feuch ten, durch die Ebbe gekräuselten Sand reflektiert. Ich spielte mit dem Gedanken, eine Runde zu schwimmen, aber dann fiel mir ein, wie kalt das Wasser war und was für Viecher dort draußen unter der Oberfläche lauerten. Hungrige Viecher.
Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und betrachte Ali, ihre weiche Haut und ihr Gesicht. Sie macht sich Notizen, obwohl der Rekorder alles aufzeichnet. Ich erzähle ihr das alles, während der mir noch verbliebene Hoden anfängt zu pulsieren, denn die Erinnerung wühlt eine Menge Gefühle wieder auf.
Früher bin ich immer wieder in Wohnhäuser eingebrochen. Es ging dabei nicht um Geld. Ich konnte mir nämlich nichts kaufen, ohne dass meine Eltern es mitbekommen hätten. Ich konnte auch keinen Fernseher klauen und mit nach Hause bringen, denn damals waren Fernseher fast so schwer wie Waschmaschinen. Ich bin aus verschiedenen Gründen eingebrochen. In der Schule gab es mehrere Mädchen, die ich mochte, und in den Sommerferien, wenn ihre Familien verreist waren, schlich ich mich in ihre Schlafzimmer. In so einem leeren Haus konnte man den ganzen Tag verbringen, auf dem Bett liegen und jemanden wirklich gut kennenlernen. Man konnte es sich richtig gemütlich machen. Der Kühlschrank und die Vorratskammer hielten Lebensmittel bereit, auf dem Bett konnte man sich ausruhen, und die Unterwäsche, die ich in den Schubladen der Mädchen fand, lieferte den Stoff für meine Fantasien. Als die Schule wieder anfing, merkten die Mädchen nicht, was ich in ihrer Abwesenheit in den Händen gehalten hatte, und das verlieh mir ein Gefühl von Macht. Sie liefen in Höschen herum, mit denen ich etwas Zeit verbracht hatte. Das ist die Wahrheit, aber diese Wahrheit kann ich der Frau, die mir gegenübersitzt, nicht erzählen.
Als ich in das Haus meiner Tante eingebrochen bin, ging es ausschließlich um Geld. Ich bin bei ihr nicht eingebrochen, um ihre Lebensmittel zu essen oder mit ihrer Unterwäsche zu kuscheln. In der Schule gab es ein Brüderpaar, das mich öfter verprügelt hat – ja, ein Zwillingspaar, und sie erklärten mir, sie würden damit aufhören, wenn ich sie bezahlte. In gewisser Weise fing mit den beiden alles an. Ja, so einfach ist das. Zwei Schläger, die älter waren als ich, haben einen Serienmörder aus mir gemacht. Ich hatte kein Geld. Aber ich wusste, dass ich welches beschaffen musste. Bevor ich in das Haus meiner Tante einstieg, war ich nur in Häuser eingebrochen, deren Bewohner im Urlaub waren. Aber während des Schuljahrs fuhr niemand in Urlaub.
»Ich brauchte das Geld«, erzähle ich meiner Psychiaterin, und ich sage ihr auch, warum. Die Geschichte scheint sie nicht zu betrüben, sie runzelt weder die Stirn, noch sagt sie Armer Joe, schon damals warst du das Opfer , aber vielleicht notiert sie es sich, denn ihr Stift hört nicht auf, sich übers Papier zu bewegen. Allerdings würde ich ihr glatt zutrauen, dass sie ein Bild von uns hinkritzelt, beide nackt. »Um an das Geld zu kommen, fiel mir nur das Haus meiner Tante ein. Tante Celeste. Sie war die Schwester meiner Mutter.«
»War?«
»Sie ist vor fünf Jahren gestorben.«
»Wie?«, fragt sie in einem misstrauischen Tonfall.
»An Krebs, soweit ich weiß«, sage ich, aber es könnte auch irgendwas anderes gewesen sein. Ein Tumor. Ein Herzleiden. Was auch immer die Leute so kriegen, wenn sie über sechzig sind. Ich war’s auf keinen Fall.
»Sie sind also in ihr Haus eingebrochen?«
Es war ein einstöckiges Haus und etwas hübscher als das meiner Eltern, aber nicht so hübsch, dass ich eingebrochen wäre, um etwas Zeit dort zu verbringen. Es handelte sich um ein Reihenhaus am Rand
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