Opferzeit: Thriller (German Edition)
und er war immer froh darüber, denn er hätte nicht gewusst, was er damit hätte anfangen sollen. Allerdings war damals Sommer. Im Winter ist er noch nicht hier gewesen.
Stella kommt wieder zurück. Sie hat ihre Ohrenschützer dabei. Seine sind orange und ihre blau, sonst sehen sie gleich aus. Sie hält sie in die Höhe und lächelt ihn entschuldigend an, dann setzt sie sie auf. Er erwidert ihr Lächeln und tut es ihr gleich. Die Geräusche, die er und Stella machen, sind jetzt nur noch stark gedämpft zu hören. Sie legt sich hin und greift nach dem Gewehr. Er steht knapp hinter ihr, betrachtete ihre Rundungen, betrachtet das Gewehr und dann die Ziele vor ihnen. Sie stützt sich mit dem Ellbogen auf dem Boden ab. Dann zieht sie die Schultern leicht hoch und neigt den Kopf vor und wieder zurück, bis sie eine bequeme Position gefunden hat. Gestern um diese Zeit hat er Frühstücksfernsehen geschaut und einen trockenen Toast gegessen, weil er zu faul war, ihn mit Butter zu bestreichen. Er war noch in Unterwäsche und hatte die Heizungen voll aufgedreht, damit er sich nicht anziehen musste. Und er fragte sich, was zum Henker er mit diesem Tag bis zum Treffen der Selbsthilfegruppe anfangen sollte, um dann schließlich damit weiterzumachen, womit er morgens angefangen hatte.
Stella hebt die Hand und streicht ihr Haar hinter die Ohren, damit es nicht das Zielfernrohr verdeckt. Sie rutscht erneut in Position, dann greift sie nach dem Abzug. Sie legt ihren Finger darauf. Raphael hält die Luft an.
Das Gewehr hüpft in die Höhe, als die Kugel mit einem Knall den Lauf verlässt. Es klingt wie ein Donnerschlag. Für einen Moment ist es so laut, dass Raphael glaubt, die Ohrenschützer wären nur dazu da, das Blut zurückzuhalten, das sonst aus seinen Ohren spritzen würde. Aber da ist kein Blut. Jedoch nur, weil er die Ohrenschützer trägt, da ist er sich sicher. Er kann nicht sagen, auf welche Büchse sie gezielt hat, denn keine von ihnen hat sich bewegt.
»Wow«, sagt Raphael, und es klingt, als würde das Wort tief aus der Erde kommen.
Sie legt erneut auf die Dose an. Und lässt sich Zeit. Er beobachtet, wie sie einatmet. Ausatmet. Er kann es gar nicht abwarten, bis er an die Reihe kommt. Er spürt, wie sein Herz rast. Sie drückt den Abzug. Erneut ein Knall. Diesmal sieht er, wie etwa dreißig Zentimeter neben einer der Dosen ein Loch in den Boden gerissen wird. Es war kein Scherz, als sie meinte, sie sei eine schlechte Schützin.
»Aller guten Dinge sind drei«, sagt Raphael, obwohl er nicht weiß, ob sie ihn überhaupt hören kann. Wie sich herausstellt, sind aller guten Dinge nicht drei. Auch nicht vier. Oder fünf. Sie legt das Gewehr auf die Decke, rollt sich auf die Seite und nimmt die Ohrenschützer ab. Sie zuckt die Achseln, wie um zu sagen Ich hab mein Bestes gegeben , dann lächelt sie ein schwaches Mach-dir-keine-Sorgen - Lächeln.
»Versuch du mal dein Glück«, sagt sie.
Raphael nickt. Er fühlt sich wie ein Kind an Weihnachten.
Er geht in die Hocke, seine Knie tun ein bisschen weh, und das linke gibt ein Knacken von sich, was ihm ein wenig peinlich ist – er kommt sich alt vor. Stella setzt ihre Ohrenschützer wieder auf. Er liegt jetzt in der gleichen Position da wie sie eben. Das Gewehr fühlt sich an wie eine natürliche Verlängerung seines Arms. Es verleiht ihm ein Gefühl der Stärke. Es ist ein gutes Gefühl. Er schaut mit einem Auge durch das Zielfernrohr. Alles ist gestochen scharf. So scharf, dass er nicht versteht, wie man damit danebenschießen kann. Klar, man schießt daneben, weil sich die Bedingungen ändern. Wind. Regen. Grelles Sonnenlicht. Andere Leute. Alles Mögliche. Auf eine Blechbüchse zu schießen ist etwas anderes, als auf einen Mann zu schießen. Die Büchsen bewegen sich nicht. Man steht nicht unter Druck, spürt keine Panik, und man hat auch keine Angst, die falsche Dose zu treffen und so das Leben anderer Dosen zu zerstören, die sie geliebt haben.
Er drückt den Abzug. Die Büchse fliegt durch die Luft, landet auf dem Boden, rollt weiter und bleibt fünf Meter entfernt auf der Seite liegen; sie ist leicht eingebeult und hat auf der einen Seite ein Eintritts- und auf der anderen Seite ein Austrittsloch. Er nimmt eine der Dosen ins Visier, die halb von einer dicken Baumwurzel verdeckt sind. Sie fliegt ebenfalls durch die Luft. Zwei Schuss, zwei Treffer. Er ist ein Naturtalent.
Er schaut erneut durch das Fernrohr. Er denkt an seine Tochter. Er weiß, wie sie gestorben
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