Ophran 3 Die entflohene Braut
Stil
gearbeitet - ebenso wie die Kommode am Fenster. Die Wände waren kahl, bis auf das über dem Kamin hängende Bild eines prächtigen Schiffes, das mit geblähten Segeln den Ozean befuhr. Selbst wenn er nicht auf See war, wurde Jack offenbar gern an das Meer erinnert.
Sie blies die Öllampe aus, die auf dem Nachttisch stand, und ließ sich in die Kissen sinken. Jacks Matratze war entsetzlich hart im Vergleich zu den weichen Matratzen, die sie gewohnt war. Der Regen schien immer lauter gegen die Fenster zu klopfen, und Amelia verspürte mit einem Mal einen nagenden Hunger. Sie hatte in den letzten Tagen nur wenig gegessen. Eunice’ Haferkuchen waren zwar recht nahrhaft gewesen, doch das Sättigungsgefühl war längst verflogen. Amelia gab die Hoffnung auf Schlaf auf, schlug die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Vielleicht ist noch ein wenig Hafergebäck übrig, dachte sie, während sie sich in eine karierte Wolldecke hüllte. Sie zündete eine Kerze an und tappte mit nackten Füßen in den Flur, fest entschlossen, etwas Essbares aufzutreiben.
Das Haus war still - bis auf das Geräusch des Regens, der auf das Dach trommelte. Amelia schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinab und versuchte, niemanden aufzuwecken. Als sie das Erdgeschoss erreichte, sah sie, dass aus einem der Zimmer am Ende des Ganges Licht fiel. Neugierig ging sie darauf zu und spähte durch den Türspalt ins Innere.
Jack saß zusammengesunken an seinem Schreibtisch, den Kopf zwischen die Arme gebettet, und schnarchte.
Sie schlüpfte lautlos in den kleinen Raum, fasziniert von den kuriosen Dingen, die ihr Gastgeber von seinen Reisen mitgebracht hatte. Er besaß zweifellos eine Schwäche für alte Waffen, denn an einer der Wände prangte eine beeindruckende Sammlung von Dolchen, Schwertern, Säbeln, Helmen, Piken und Armbrüsten. Eine andere Wand spiegelte seine Liebe zur Kunst wider durch eine kleine, doch erlesene Ausstellung von gemeißelten Friesen aus Griechenland und Ägypten, die durch polierte Holzmasken aus Afrika und farbenprächtige Mosaikfragmente aus dem Orient ergänzt wurde. Die dritte Wand wurde von einer Reihe sorgfältig gezeichneter Landkarten geschmückt. Die Wand, auf die er von seinem Schreibtisch aus blickte, schien nicht recht zum Rest des Zimmers passen zu wollen. Über dem Kamin hing das Bildnis eines hübschen braunhaarigen Mädchens von etwa elf Jahren, das lesend in einem Sessel saß, eine elfenbeinfarbene Rose zu seinen Füßen. Das Gemälde war entzückend, doch seine zarte Romantik stand im Widerspruch zu allem anderen, mit dem Jack sich umgeben hatte.
Sein Schreibtisch war mit Dokumenten übersät, und auf dem prächtig gemusterten Teppich lagen zahllose weitere Schriftstücke verstreut. Jack hatte sein Jackett und seine Weste achtlos über einen Stuhl geworfen und die Hemdsärmel hochgekrempelt, was Amelia einen Blick auf die sehnigen, muskulösen Unterarme erlaubte, auf denen sein Kopf ruhte. Das dunkelbraune Haar fiel in sanften Wellen über seine markante Kieferpartie, und seine Stirn wirkte ein wenig glatter als sonst. Eine rührende, beinahe jungenhafte Verletzlichkeit umgab ihn, während er schlief. Amelia trat näher. Was mochte so dringend gewesen sein, dass er sich trotz seiner offenkundigen Erschöpfung damit befasst hatte? Sie stellte die Kerze auf den Schreibtisch und überflog die vielen Verträge, Rechnungen und mit Zahlen bekritzelten Zettel, an denen Jack gearbeitet hatte. Um seine nahezu unleserliche Handschrift besser entziffern zu können, griff sie nach einem der Blätter.
„Lass los, ehe ich dich umbringe! “ zischte er und umklammerte Amelias Handgelenk mit derart eisernem Griff, dass sie fürchtete, er würde es zermalmen.
„Oh! “ keuchte sie überrascht. „Verzeihen Sie! “
Jack schaute sie verwirrt an, während er langsam aus den dunklen Tiefen des Schlafes auftauchte. Er wähnte, wieder der verzweifelte, halb verhungerte Zwölfjährige zu sein, der nichts als seine schmutzigen, verlausten Kleider und ein Paar schäbiger Stiefel sein Eigen nennen konnte. Es war gefährlich einzuschlafen. Es gab immer jemanden, der nur darauf wartete, ihm das Wenige zu stehlen, was er besaß. Doch er war stark für sein Alter und hatte flinke Fäuste, und er wollte verdammt sein, wenn er irgendeinem Lumpen erlaubte, ihm auch nur einen Knopf wegzunehmen.
„Bitte, Jack“, flehte Amelia, „Sie tun mir weh. “
Er war schlagartig wieder bei klarem Bewusstsein und ließ Amelia entsetzt
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