Optimum 1
abgebrochene Balken. Ein Teil der Wand war eingestürzt, und ein Haufen aus Betonbrocken lag an ihrer Basis. Dahinter konnte man schemenhaft einen dunklen Raum erkennen, angefüllt mit Tischen und Stühlen, um die sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte. Hier und dort ragten lange Metallträger aus der Wand, offensichtlich hatten daran mal Lampen gehangen, die jetzt schon lange verschwunden waren. Vor dem Gebäude gab es einen kleinen, mit achteckigen Steinen gepflasterten Platz, an den sich eine halbrunde Sitzgruppe aus Steinen anschloss, die stufenförmig übereinandergeschichtet waren. Ein paar junge Sträucher waren zwischen den Steinen hervorgebrochen und schwenkten ihre grünen Zweige in der Nachmittagsbrise. Der gesamte Steinboden war übersät mit den feuchten Blütenblättern der Rosenbüsche, die den Platz einrahmten.
»Wo sind wir hier?« Rica blinzelte. Sie hätte nicht gedacht, dass sich so etwas Verwunschenes auf dem Gelände der Schule verbarg.
»Die alte Musikhalle. Sie ist vor etwa zehn Jahren abgebrannt«, erwiderte Jo und steuerte auf die Sitzgruppe zu. »Komm! Setz dich!«
Rica folgte ihr zu den Steinen und ließ sich mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung darauf nieder. Jo neben ihr lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Über ihnen wiegten sich die Zweige im Wind und ließen ein verwirrendes Lichtspiel über den Boden tanzen.
»Ich komme hierher, wenn ich nachdenken muss«, sagte Jo ruhig. »Wenn du heulen musst, kannst du es hier auch ganz ungestört tun. Keine Bange, ich lache dich nicht aus.« Sie warf einen kurzen Seitenblick auf Rica. »Männer sind scheiße, das ist halt so.«
Yannick. Bei dem Gedanken schnürte es Rica wieder die Kehle zusammen, aber nicht mehr ganz so sehr. Es war, als wären Yannick und Lena und der ganze Rest der Welt irgendwie in weite Ferne gerückt an diesem ruhigen Ort. Es war eine Zuflucht, erkannte sie, ein wenig düster, ein wenig wild und so gar nicht wie alles andere an dieser perfekten Schule.
»Mir ist gerade nicht nach Weinen«, sagte sie und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass das die Wahrheit war. Sie betrachtete die geschwärzte Wand vor sich und versuchte, Muster in den schwarzen Flecken und Linien zu erkennen. »Warum musst du manchmal hierherkommen?«, wollte sie wissen.
Jo hob die Schultern. »Ab und zu möchte ich einfach dieser perfekten Welt entkommen, die sie da für sich aufgebaut haben.« Sie grinste, aber es sah eher bitter aus. »Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie dich mit ihrer Perfektion ersticken?«
Rica zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nicht. Gut, klar, die Schule fordert mehr als meine alte. Aber sie bietet auch mehr. Und ich fühle mich nicht einmal gezwungen mitzumachen.« Auch das war die Wahrheit, wie sie sich eingestehen musste. An ihrer letzten Schule hatte es immer wieder den einen oder anderen Lehrer gegeben, der aus den Schulfächern Zwang gemacht hatte. Und Rica hatte sich immer dagegen gewehrt. Sie hatte überhaupt nicht eingesehen, warum sie sich nach den Wünschen anderer richten sollte. Hier war das ganz anders. Hier wollte sie mitarbeiten, weil die meisten Fächer interessant waren und die Lehrer locker.
Jo sah sie nachdenklich an. »Tatsächlich?«, sagte sie dann und ließ sich wieder zurücksinken.
»Fühlst du dich denn zu irgendwas gezwungen?«, fragte Rica vorsichtig. Im Grunde ging sie das natürlich nichts an, aber alles war besser, als über Yannick und Lena nachzudenken. Das war ein Ort, an den sie mit ihren Gedanken vorerst nicht gehen wollte.
Jo antwortete nicht. Sie lag auf dem Rücken auf der obersten Stufe und starrte in den Himmel und die Zweige hinauf. Es schien nicht das Thema zu sein, über das sie gern reden wollte. Aber warum hatte sie Rica hierhergebracht, wenn nicht, um zu reden? Aus reinem Mitleid für Ricas Situation? Irgendwie glaubte sie nicht so recht daran. Aber sie wusste auch nicht, was sie Jo fragen sollte, also schwieg sie ebenfalls und starrte weiterhin die Betonwand vor sich an. Die Stille lag zwischen ihnen wie eine massive Wand. Eigentlich hätte man jedes Rascheln in den Blättern, jedes Wispern des Windes, jedes Summen von Insekten hören müssen, doch Ricas Sinne waren einzig und allein auf Jo konzentriert. Sie wartete.
»Hast du jemals das Gefühl gehabt, etwas Außergewöhnliches zu sein?«, fragte Jo plötzlich.
Rica antwortete nicht gleich. Sie musste über die Frage nachdenken.
Weitere Kostenlose Bücher