Optimum 1
los.
Brombeerranken und Rosenzweige verhakten sich in ihrer Kleidung, kratzten über ihre bloßen Arme und hinterließen rote Striemen auf ihrer Haut. Vögel stoben erschrocken aus dem Unterholz auf und flohen vor Rica in die Bäume. Sie achtete auf nichts. Rücksichtslos schlug sie sich durch das Dickicht auf den Hauptweg zurück und sprintete dort erst richtig los.
Trotzdem schaffte sie es erst zehn Minuten nach dem zweiten Gong ins Klassenzimmer. Herr Torbrecht, der Lehrer für Sozialkunde und Leiter des Diskussionsklubs, saß wie üblich auf dem Lehrerschreibtisch, doch dieses Mal hielt er keinen seiner spannenden Vorträge, sondern sah mit ruhiger Gelassenheit auf die fünfzehn Schüler vor sich hinunter. Die Tische im Klassenzimmer waren auseinandergeschoben, und fünfzehn Köpfe beugten sich über je ein Blatt Papier. Rica blieb stockstill in der Tür stehen.
»Ah, Ricarda. Schön, dass du auch da bist.« Herr Torbrecht sah auf und Rica direkt in die Augen. Das war eine äußerst unschöne Angewohnheit von ihm, die sie überhaupt nicht leiden konnte. Sie fühlte sich immer klein und herabgewürdigt, wenn er sie so ansah.
»Tut mir leid, ich wusste nicht, dass wir eine Arbeit schreiben.« Etwas schien eiskalt durch Ricas Adern zu fließen. Sie hatte kein Stück gelernt. Und Sozialkunde war nicht gerade ihr stärkstes Fach, auch wenn sie sich sehr viel Mühe damit gab.
»Es ist ein Blitztest«, erwiderte Herr Torbrecht ruhig, »die kündige ich nie an. Eine Schnellerörterung. Dass du nun gerade heute zu spät gekommen bist, ist natürlich dein Pech. Setz dich bitte an deinen Platz und fang an!« Seine Stimme hatte heute gar nichts von dem freundlichen, lockeren Lehrer, als den Rica ihn kennengelernt hatte. Es lag Eis darin.
Hastig lief sie die Reihen entlang zum Fenster, wo ihr Pult stand, nur eine Armeslänge von Elizas Platz entfernt. Auf der Tischplatte lag ein einzelnes Blatt.
Rica ließ sich auf den Stuhl fallen, zog einen Kugelschreiber aus der Seitentasche ihres Rucksacks und drehte das Papier um. »Alle Menschen sind gleich. Erörtere!« Das war die einzige Anweisung. Rica blinzelte und drehte das Papier noch mal um, aber auf der Rückseite stand nichts. Na gut. Alle Menschen sind gleich. Dazu hatte sie in ihrer alten Schule schon mal etwas geschrieben, als sie Animal Farm von George Orwell durchgenommen hatten. Sie hatte also eine ungefähre Vorstellung davon, was sie schreiben konnte. Erleichterung durchflutete sie, und sie setzte den Kugelschreiber an, um loszulegen.
In diesem Moment hustete Herr Torbrecht und gleichzeitig wurde Rica von rechts angestoßen. Sie blickte überrascht zu Eliza, die wiederum völlig in ihren Zettel vertieft zu sein schien. Aber in ihrer Linken hielt sie ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Rica, nach acht Schuljahren erfahren in allen Arten von geheimen Botschaften, schnappte sich den Zettel, schob ihn unter ihren Testbogen und begann zu schreiben. Erst als sie sicher war, dass Herr Torbrecht in eine andere Richtung sah, faltete sie das Papier auf.
»Sie sind nicht gleich. Zumindest will er das hören«, stand da in Elizas hübscher, runder Mädchenschrift. Rica blinzelte verwirrt, sah kurz auf zum Pult und bemerkte, dass Herr Torbrechts Blick verdächtig in ihre Richtung wanderte. Hastig steckte sie Elizas Zettel ein und beugte sich über ihren Test.
Die Menschen sind nicht gleich . Sie hatte keine Ahnung, warum jemand, der so aufgeschlossen und tolerant war wie Herr Torbrecht, so etwas hören wollte. Aber gut, vielleicht war das eine Art Test, um zu sehen, wie gut man die andere Seite vertreten konnte. Wie ein Verteidiger vor Gericht, der musste ja auch hinter dem stehen, was er sagte. Gut, wenn er will, dass ich herumspinne, dann mache ich das doch. Rica setzte den Kugelschreiber an und begann zu schreiben.
»Warum um alles in der Welt wollte er, dass wir so einen Kram schreiben?«
Der Nachmittagsunterricht war vorbei, und Rica saß zusammen mit Eliza und zwei anderen Klassenkameradinnen auf den Stufen vor dem Schulhaus. »Ich meine – Menschen sind nicht gleich? Wie kommt er denn auf die Idee?«
Eliza zögerte. »Ich weiß nicht. Vielleicht ist es ja auch gar nicht seine Meinung. Aber wir haben letztes Jahr schon mal drüber gesprochen, und da hat er doch ein paar Mal sehr deutlich gesagt, dass Menschen eben nicht gleich sind.«
»Und selbst wenn? Ich meine: Es ist eine Erörterung, ich kann doch schreiben, was ich will. Solange ich meine Meinung
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