Optimum 1
ihr, sondern zu einer anderen Rica, einer, die schon ihr Leben lang an Kletterwänden herumgeturnt war.
Ein plötzlicher Ruck am Seil ließ sie innehalten. Sie krallte die Finger in die Griffe, an denen sie gerade waren, und hatte plötzlich das Gefühl, den sicheren Stand zu verlieren. Von einem Moment auf den anderen begann ihr Herz zu rasen, und sie wurde sich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wie weit sie schon geklettert war. Vorsichtig wagte sie es, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Sie zuckte zusammen. Sie war sehr viel weiter geklettert, als sie gedacht hatte, keinesfalls nur ein oder zwei Meter, wie sie es zuerst vorgehabt hatte. Sie musste die halbe Kletterwand hinaufgestiegen sein, ohne wirklich darüber nachzudenken. Es kam ihr vor, als stünde Lars kilometerweit unter ihr, blickte mit halb besorgtem und halb belustigtem Gesichtsausdruck zu ihr herauf und schüttelte fassungslos den Kopf.
»Du solltest dich jetzt abseilen. Das Seil vor dir packen und mit den Füßen an der Wand nach unten gehen. Ich gebe dir Seil nach.«
Für einen kurzen Moment verfiel Rica wieder in Panik. Die Idee, sich einfach von der sicheren Wand abzustoßen, behagte ihr überhaupt nicht. Doch als Lars von unten »Jetzt los!« rief, da handelte ihr Körper wieder ganz von allein. Sie löste die Hände von den Griffen, packte das Seil vor sich und begann, langsam abwärtszusteigen. Es war ganz einfach. Sogar noch viel einfacher als der Anstieg, und tatsächlich kam es Rica so vor, als hätte sie in ihrem ganzen Leben nichts anderes getan. Als sie schließlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wollten ihre Knie unter ihr nachgeben, so sehr war sie schon an die Kletterwand gewohnt gewesen. Lars schien ihre Unsicherheit zu ahnen und packte Ricas Ellbogen, als sie stolperte.
»Nun mal langsam«, sagte er und lachte. Dann ließ er Ricas Arm rasch los, trat einen Schritt von ihr zurück und musterte sie anerkennend. »Du hast geschwindelt, oder? Du hast das doch schon mal gemacht.«
Rica schüttelte den Kopf. »Noch nie. Ehrlich.« Sie sah an der Wand hoch. Noch immer kribbelten ihre Fingerspitzen. Sie hatte das große Bedürfnis, gleich wieder loszuklettern.
»Dann bist du ein Naturtalent.« Lars lachte. »Also, wenn du nicht morgen in meinen Kletterkurs kommst, dann bin ich dir wirklich, wirklich böse. Das wäre eine unsägliche Verschwendung von Talent.«
Ricas Herz machte einen Sprung. Noch vor einer halben Stunde hätte sie es nicht geglaubt, aber spätestens jetzt gab es etwas an dieser Schule, das sie unbedingt machen wollte. Und sie hatte ihr ganzes Leben lang nichts davon gewusst.
»Klar komme ich«, sagte sie. »Wir wollen doch nichts verschwenden.« Sie lächelte ihn an, er grinste zurück und sah noch mehr wie ein Schuljunge aus. Dann entdeckte er offensichtlich etwas hinter Ricas Schulter und reckte sich.
Rica drehte sich um. Am Rande des Betonplatzes vor der Kletterwand stand Jo. Sie hatte sich den Gurt eines Rucksacks lässig über die rechte Schulter geworfen und trug knallenge Shorts und ein feuerrotes Top. Sie starrte Rica zuerst völlig verblüfft an, dann sah sie ein wenig misstrauisch aus, schließlich zuckte sie jedoch einfach nur mit den Schultern. Langsam schlenderte sie auf Lars und Rica zu und ließ ihren Rucksack neben die beiden gleiten, als sie sie erreicht hatte.
»Hey, Rica«, sagte sie beiläufig, bevor sie sich an Lars wandte. »Sorry, ich bin ein bisschen spät dran. Musste noch was für die Schule erledigen.«
Rica sah von Lars zu Jo und wieder zurück. Lars’ Grinsen wirkte nun fast ein bisschen verlegen, aber er gab sich weiterhin locker und streckte Jo die Hand hin. »Fein, dass du kommen konntest. Bereit für die Übung?« Er gestikulierte in Richtung Wand. Jos Blick folgte der Geste, und ihre Augenbrauen zogen sich merklich zusammen. »Das ist ja die einfache Route«, sagte sie. »Ich bin doch schon viel weiter. Ich dachte, wir trainieren hier für den Wettbewerb.«
Lars zuckte mit den Schultern. »Ich will erst mal sehen, ob du nicht über die Ferien alles verlernt hast«, sagte er. »Danach sehen wir weiter. Übrigens – du könntest vielleicht Konkurrenz beim Wettbewerb bekommen.« Er zeigte auf Rica. »Wenn sie ein bisschen übt, kann sie bestimmt schon dieses Jahr mitmachen.«
Jo musterte Rica. Zuerst konnte diese Jos Blick nicht deuten, war das Eifersucht? War sie wütend darauf, dass Rica ihr den Rang ablief, zumindest in Lars’ Augen? Aber dann
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