Optimum 1
Mutter saß am Esstisch und korrigierte Hausaufgaben, als Rica die Tür aufschloss und die Wohnung betrat. Sie sah nur flüchtig auf. »Essen ist in der Küche, du kannst es dir in der Mikrowelle warm machen«, sagte sie und senkte ihren Kopf wieder über das aufgeschlagene Heft.
Nachdem Rica sich allerdings seufzend zu ihr an den Tisch fallen gelassen und den Rucksack achtlos auf den Boden geworfen hatte, wurde sie doch aufmerksam. Sie schraubte ihren roten Füller zu und legte ihn sorgsam vor sich hin.
»Was ist denn nun wieder passiert?«, wollte sie wissen.
»Warum musste es ausgerechnet diese Schule sein?«, entgegnete Rica. »Warum hierher? Ich dachte immer, du hältst nicht viel von Privatschulen und noch weniger von Internaten. Warum sind wir also hier?« Ihr war bewusst, dass sie sich anhörte wie ein trotziges kleines Kind, aber der Tag hatte ihr einfach den Rest gegeben. »Wenn wir nicht hierhergezogen wären, dann …« Aber sie sprach nicht weiter. Ihrer Mutter von Lena und Yannick zu erzählen – wie es ihr auf der Zunge gelegen hatte – würde ihr auch nicht weiterhelfen.
»Du weißt, dass ich so kurzfristig keine andere Arbeit bekommen habe«, antwortete ihre Mutter ruhig und strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Ich habe den Auftrag hier gebraucht, Rica.«
»Aber warum genau hast du denn deine letzte Schule verlassen?«, beharrte Rica. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es irgendwelche Schwierigkeiten gegeben hatte.
»Meinungsverschiedenheiten«, gab ihre Mutter knapp zurück, und Rica hörte, wie sich Ärger in ihre Stimme schlich. »Hör mal, willst du nun was essen oder nicht? Ich habe wirklich zu tun. Ich dachte, es gefällt dir hier, dann sei doch einfach mal zufrieden mit dem, was du hast!«
»Ich geh ja schon.«
Doch während Rica in der Küche mit dem Geschirr hantierte und sich eine große Portion Lasagne auf einen Teller schaufelte, schwirrten die Gedanken in ihrem Kopf herum wie ein Schwarm aufgescheuchter Hornissen. Eigentlich … Ja, eigentlich hatte sie ihrer Mutter die Frage tatsächlich aus reinem Trotz gestellt, nur um ihr klarzumachen, wie beschissen sie die ganze Situation fand. Aber das Gespräch gerade eben war in eine ganz andere Richtung gegangen.
Rica kannte ihre Mutter. Und wenn die kurz angebunden war und Schimpfen als Notlösung wählte, dann gab es da immer irgendetwas hinter der Fassade, das ihre Mutter vor Rica verstecken wollte.
Warum also war ihre Mutter wirklich an diese Schule gekommen? Schade nur, dass sie auf diese Frage wohl nie eine Antwort erhalten würde. Zumindest nicht von ihrer Mutter.
Kapitel sechs
Haltlos
Rica sammelte ihre Kletterausrüstung vom Boden auf, stopfte sie in ihre Sporttasche und schlang sich deren Gurt über die Schulter. Etwas zögernd griff sie schließlich auch noch nach ihrer Kamera, die über der Stuhllehne hing. Vielleicht war das Licht an diesem Tag endlich gut genug, um ein paar richtig schöne Aufnahmen zu machen. Lars hatte ihnen versprochen, dass er heute mal selbst kletterte, und Rica konnte sich vorstellen, dass das ein paar atemberaubende Fotos geben könnte. Ein ansehnlicher Körper, der sich die steile Kletterwand hinaufschwang. Rica musste lächeln.
»Bist du schon unterwegs?« Die Stimme ihrer Mutter klang gedämpft aus ihrem Arbeitszimmer. Dort hatte sie sich wieder einmal vor ihrem Rechner vergraben und sah die neusten Prüfungsaufgaben durch. Sie schien hier doppelt und dreifach so viel zu arbeiten wie an ihrer alten Schule, aber vielleicht stand auch sie unter dem Druck, es allen an dieser Eliteschule so richtig zu zeigen. Oder es hängt irgendwie mit dem wahren Grund zusammen, warum wir hierhergekommen sind.
»Nein. Gleich. Ich hab noch fünf Minuten.«
»Nicht dass du zu spät kommst.« Im Tonfall ihrer Mutter schwang Ungeduld mit, als wolle sie Rica endlich aus dem Haus haben.
»Ma, es ist nur eine AG. Niemand wird mich nachsitzen lassen, nur weil ich ein bisschen zu spät dran bin.« Trotzdem setzte Rica sich in Bewegung. In der Tür jedoch blieb sie noch einmal einen Moment stehen und betrachtete ihr Zimmer. Ihr eigenes gemütliches Zimmer, aus dem sie sich jetzt schon nicht mehr wegdenken konnte.
Kaum zu glauben, dass wir erst sechs Wochen hier sind. Rica kam es vor, als habe sie schon eine Ewigkeit an der Daniel-Nathans-Akademie verbracht. Wenn man es genau betrachtete, war es gar nicht so schlimm. Selbst der Schmerz über die Sache mit Lena und Yannick verblasste allmählich und ließ
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