Optimum 1
sich durchs Haar, was es noch zerzauster aussehen ließ und – natürlich – seinen jungenhaften Charme noch besser zur Geltung brachte. Der Charme, dem kein Mädchen hier widerstehen kann, dachte Rica, inklusive meiner selbst.
Er wollte sie auf die Probe stellen, das war klar. Wahrscheinlich hatte er ihre Bemerkung über Sarah gehört und erteilte ihr jetzt eine Lektion. Oder vielleicht traute er ihr die Route tatsächlich zu. Immerhin habe ich mich wirklich verbessert, dachte Rica. Und ich war schon von Anfang an gut. Sie atmete tief durch.
»Okay«, sagte sie und trat einen Schritt vor, in einer Hand immer noch ihren Gurt, in der anderen die Handschuhe. »Wer sichert?« Sie warf einen Blick in die Runde, in all die aufgeregten, geröteten Gesichter, und entdeckte Torben in der Menge. Ganz gegen seine normalen Gewohnheiten war Robin nicht bei ihm, und Rica spürte zu ihrer Verärgerung einen leichten Stich der Enttäuschung. Sie hätte es gern gehabt, dass Robin da gewesen wäre bei ihrem ersten Versuch auf der linken Route. Vielleicht hätte er sogar sichern können, und wenn sie sich dann abseilte …
So sehr trauerst du also um Yannick? Ihr Gewissen versetzte ihr einen kleinen Stich.
»Ich mach das.« Jo klang mürrisch, aber Rica freute sich dennoch.
»Ausgezeichnet, Jo.« In Lars’ Stimme lag Anerkennung und mehr als nur ein bisschen Freude. Er hielt große Stücke auf Jo, und nicht umsonst. Jo war die beste Kletterin in der ganzen Gruppe, und Rica war es manches Mal so vorgekommen, als ob sie die Sicherungsgurte überhaupt nicht brauchte. Aber natürlich ließ niemand sie ohne Gurt klettern.
Rica lächelte Jo zu und machte sich daran, ihren eigenen Hüftgurt anzulegen, während Jo gewissenhaft die Seile und Verschlüsse kontrollierte. Dann trat sie ganz dicht vor Rica und befestigte den Karabinerhaken an ihrem Gurt. Erst dann sah sie auf und Rica direkt in die Augen. In diesem Moment wurde Rica bewusst, wie schlecht Jo wirklich drauf war. Ihre Wangen sahen eingefallen aus, und unter ihren Augen zeichneten sich dicke schwarze Schatten ab. Beinah, als hätte sich Jo für ein Gothic-Konzert zurechtgemacht, aber die Ringe waren definitiv keine Schminke.
»Bist du sicher?«, murmelte Rica. »Ich kann mich von Torben sichern lassen. Oder von Eliza.«
»Keine Angst, ich lass dich schon nicht fallen«, zischte Jo zurück. »Und ich lass dich nicht von einem dieser Streber sichern, da kannst du Gift drauf nehmen.«
Streber ist gut, dachte Rica. Solche Noten wie Jo würde sie selbst nie haben.
Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass Jo nicht glücklich aussah. Drei Wochen waren seit ihrem Gespräch hinter der Musikhalle vergangen, und Jo hatte Rica nicht noch mal darauf angesprochen. Doch ihre Laune hatte sich täglich verschlechtert, bis sie mit überhaupt niemandem mehr sprach.
»Okay, dann machen wir es«, meinte sie zu Jo. »Und danach sollten wir vielleicht mal reden, ja? Du siehst nicht gut aus.«
Jo schenkte ihr einen langen, ziemlich traurigen Blick, und Rica dachte schon, sie würde ablehnen. Zu Ricas Überraschung nickte sie.
»Ja, wir sollten reden. Ich muss dir dringend was erzählen. Meinetwegen auch Eliza. Treffen wir uns nach dem Kurs am Pavillon?«
Rica nickte.
»Dann los.« Jo atmete tief durch und trat an die Kletterwand. Rica folgte ihr und blieb am Fuß der Wand abschätzend stehen. Zehn Meter. Nicht so viel, wenn man es richtig bedachte, und auf der rechten Route überhaupt kein Problem.
Doch die linke Route war deutlich schwieriger als alles, was Rica bisher angegangen war, und zudem gab es am oberen Ende auch noch einen leichten Überhang, sodass sie wirklich ein Stück schräg klettern musste. Theoretisch hatte Lars ihr erklärt, wie man so etwas meisterte, aber praktisch …
»Na, Schiss?« Sarahs Stimme klang spöttisch. Rica schüttelte den Kopf, tat den letzten Schritt zur Wand und griff nach dem ersten angeschraubten Bit. Sie hatte es eigentlich nicht nötig, sich vor Sarah zu beweisen, nicht vor einem Mädchen, das jedes Mal die sicherste Route nahm und diese bestimmt schon auswendig kannte. Aber sie wollte jetzt auch nicht mehr zurückstecken. Nicht, da Lars es ihr offensichtlich zutraute, die Route zu meistern. Sie fasste weit über ihren Kopf nach einem blauen Griff, suchte mit der Linken nach einem zweiten, setzte den Fuß in eine lang gezogene, schmale Spalte, die ihr den besten Halt versprach, und schwang sich hoch. Über sich hörte sie das Seil durch den
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