Optimum 1
nicht aufpasste, würde sie im nächsten Moment von der Stufe kippen. Rica streckte eine Hand aus und hielt Eliza leicht an der Schulter fest. Ihre Freundin zuckte zusammen, als habe sie ihr einen Schlag versetzt, aber immerhin schien sie aus dieser seltsamen Starre zu erwachen. Sie drehte ihren Kopf zu Rica, und ein schwaches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
»Was meint er damit, Jo war unsicher und hatte Probleme?«, wollte Rica wissen. »Besonders unsicher kam sie mir nun nicht vor. Was soll dieser Quatsch?«
Eliza setzte eine dieser Mienen auf, die Rica sagen sollte, dass sie lange noch nicht alles wusste und dass es vielleicht besser für sie war, wenn das auch so blieb. Dabei zuckte sie nur mit den Schultern.
»… in der letzten Zeit ihre Leistungen im Unterricht stark abgefallen, und – so fürchte ich – ihre Mitschüler haben das nicht immer freundlich aufgenommen.« Der Rektor machte eine Pause und ließ seinen Blick über die versammelten Schüler und Eltern schweifen. »Ich möchte jetzt niemandem von euch die Schuld geben, sicher wisst ihr alle viel besser, was ihr getan habt, aber Tatsache ist, dass Jo sehr gelitten hat. Und dass einige von euch daran schuld sind.«
Hatte zumindest vorher noch hier und da Gemurmel geherrscht, so legte sich nun wirklich eine undurchdringliche Stille über die Aula. Rica konnte sehen, wie sich überall Schüler einander zuwandten und sich ansahen. Fragend, irritiert, teilweise auch wütend. Niemand schien zu wissen, wovon der Rektor sprach. Die Ruhe hielt allerdings nicht lange an. Schnell setzten die ersten Stimmen wieder ein, hier und dort wurden Protestrufe laut, aber bevor die Situation ausufern konnte, sprach der Rektor weiter:
»Ja genau, auch eure Schuld. Josefine hatte Probleme. Sie hätte eure Hilfe gebraucht, nicht euren Spott. Josefine hat sich unserer Therapeutin anvertraut, aber leider nicht genug. Wir wissen, dass sie gemobbt wurde, wir wissen, dass es einige Schüler hier gab, die Josefine das Leben zur Hölle gemacht haben.«
Wieder Schweigen. Alle Gesichter waren jetzt auf den Rektor gerichtet, und in allen las Rica das Gleiche: ungläubiges Staunen. Jo gemobbt? Auf ein paar Gesichtern mischte sich der Unglaube mit einem leichten Schuldbewusstsein. Rica fragte sich, ob das diejenigen waren, die Jo gemobbt haben sollten. Aber sie konnte es sich kaum vorstellen, es waren vor allem die Jüngeren, ein paar Unterstufler, die sich jetzt unsicher umsahen, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt. Wahrscheinlich wussten sie nur nicht genau, ob sie nicht unbewusst etwas falsch gemacht hatten.
Bist du gemobbt worden, Jo? Der Gedanke fühlte sich vollkommen falsch an. Und in diesem Moment, als hätte jemand einen Schalter in ihrem Inneren umgelegt, wurde Rica etwas klar: Jo hätte niemals Selbstmord begangen. Niemals.
Jemand hatte sie umgebracht.
Ricas Herz begann zu rasen. Ermordet. Jo wurde ermordet. Sie starrte über die Köpfe der versammelten Menge hinweg den Rektor an, der gerade seine Rede beendete und beiseitetrat, um Frau Jansen Platz am Rednerpult zu machen. Sie hatte überhaupt nicht mehr mitbekommen, was er eigentlich gesagt hatte, aber es war ihr auch egal. Jo hätte niemals Selbstmord begangen. Das war alles, was jetzt zählte.
»So ein Unsinn!« Rica knüllte den Flyer in ihrer Hand zusammen, überlegte es sich dann wieder anders und strich das bunte Papier glatt. »Warte nicht darauf, dass deine Probleme dich überrollen: Hol dir Hilfe!«, las sie laut und in spöttischem Tonfall vor. »Es gibt immer jemanden, an den du dich wenden kannst.« Sie betrachtete die Fotos von den glücklichen Teenagern und Erwachsenen unter dieser Ankündigung. Den Flyer hatte der Rektor nach der Versammlung austeilen lassen. Er warb für eine Selbsthilfegruppe bei Mobbing und Schulproblemen sowie eine Hotline, bei der man sich melden konnte, wenn man »einfach mal reden« wollte. So etwas Albernes.
Sie saßen auf einer der Steinbänke im Park im Sommersonnenschein, ihre Rucksäcke vor sich auf dem Gras, die Beine ausgestreckt. Überall um sie herum lungerten kleine Grüppchen von Schülern, die sich auf dem Gras niedergelassen hatten und in Unterhaltungen vertieft waren. Die meisten von ihnen hatten ebenfalls die grellen Flyer in der Hand, und nach allem, was Rica sehen konnte, hielten sie auch nicht viel mehr davon als sie selbst. Auf vielen Gesichtern waren immer noch Missbilligung und Zweifel zu erkennen.
»Wenn Jo gemobbt worden sein soll,
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