Optimum 1
Rica hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und eine Stelle entdeckt, an der sich die Schüler nicht ganz so dicht drängten. Kurz entschlossen begann sie, sich durch die Menschentraube dorthin zu schieben, und Eliza folgte ihr. Zuerst war es schwer, niemand wollte ihnen ausweichen, und eine Vielzahl von Flüchen flog ihnen hinterher, doch dann hörte Rica Eliza hinter sich tief durchatmen, langsam und ruhig, wie sie es auch schon bei der Prügelei in der Mensa getan hatte – und plötzlich wurde es besser. Immer noch mürrisch, aber deutlich bereitwilliger wichen die Leute vor ihnen zur Seite.
Noch etwas, das ich sie eigentlich dringend fragen sollte, dachte Rica, aber sie wird mir darauf keine Antwort geben. Niemand gibt einem hier Antworten.
Sie erreichten den Rand einer etwas erhöhten Stufe, von der aus man ganz gut auf das Podium sehen konnte. Offensichtlich hatte sich bisher niemand getraut, so nahe an den Rand zu gehen, und so hatten Rica und Eliza den Aussichtspunkt für sich. Rica reckte den Hals, um noch besser sehen zu können.
Das Podium war noch leer. Sie hätte erwartet, dort irgendwo ein Foto hängen zu sehen, ein Plakat mit Jos Gesicht oder zumindest schwarze Banner oder so etwas. Immerhin fand diese Versammlung nur ihretwegen statt. Doch stattdessen hingen zwei tiefviolett und gelb geteilte Stoffbahnen links und rechts an der Wand hinter dem Rednerpult, und neben dem Pult selbst stand ein Pappkarton, in dem sich kopierte Zettel in den gleichen Farben befanden.
»Was soll der Scheiß?«, murmelte Rica. »Warum –« Doch dann fiel ihr Blick auf Eliza, und sie verstummte. Eliza sah blass aus und hatte die Lippen fest aufeinandergepresst. Sie hatte ihre Hände so fest zu Fäusten geballt, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Sollen wir lieber wieder gehen?«
Es war jetzt zwei Tage her, seit Rica über Jos Leiche gestolpert war, und in diesem Zeitraum war Eliza noch stiller und nervöser geworden als sonst. Der kleinste Laut schien sie aufzuschrecken, und immer wieder verfiel sie in eine Art seltsame Starre. Während Rica sich nicht zuletzt durch Robins Zuspruch und Hilfe wieder einigermaßen gefangen hatte, wurde Elizas Zustand immer schlimmer. Sie wirkte bisweilen so geschockt, als habe sie selbst die Leiche gefunden.
Jetzt schüttelte sie jedoch den Kopf. »Ich will das hören«, flüsterte sie. »Vielleicht haben sie ja eine Idee, was … ich meine, warum …« Sie verstummte wieder, aber das konnte auch daran liegen, dass nun der Schuldirektor mit einigen anderen Lehrern und einem Herrn in einem dezenten dunkelblauen Anzug die Bühne betrat. Zielstrebig steuerte der Rektor das Rednerpult an, während sich die anderen auf geschickt im Hintergrund platzierte Stühle setzten. Nur der Herr im blauen Anzug blieb neben dem Rektor stehen. Er hatte einen der zweifarbigen Flyer in der Hand.
Der Rektor räusperte sich. Das Mikrofon am Rednerpult war bereits eingeschaltet, sodass der Laut bis in die hinterste Ecke übertragen wurde, rau und unsicher und viel zu laut. Ein paar Schüler zuckten zusammen, und einige jüngere hielten sich sogar die Ohren zu. Aber einen Effekt hatte das Geräusch zumindest: Die meisten Gespräche brachen ab, und die Gesichter wandten sich dem Rektor zu. Abgesehen von einem leisen Murmeln, das sich trotz allem hartnäckig hielt, wurde es still im Raum.
»Ich habe Sie alle heute hierhergebeten«, begann der Rektor, ohne seinen Blick von der versammelten Menge zu nehmen, »um über Josefine zu sprechen.«
Das Raunen wurde wieder lauter und hörte sich nun ärgerlich an. Natürlich wussten sie, warum sie dort waren. Der Rektor ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern griff nach einem einzelnen Blatt Papier, das vor ihm auf dem Rednerpult lag. Er senkte seinen Blick, und Rica konnte sehen, dass seine Finger zitterten, als er es anhob.
»Liebe Schüler, wie ihr alle wisst, war Josefine, als sie zu uns kam, schon ein sehr unsicheres Mädchen«, begann er. »Ein Mädchen mit Problemen. Ihre Eltern haben gehofft, dass wir hier an der Daniel-Nathans-Akademie etwas für sie tun können. Ihr ein wenig von ihrer Unsicherheit nehmen, sie in ihren eigenen Stärken unterstützen und ihre Schwächen überwinden lassen.« Seine Rede ging noch weiter, doch Rica hörte nicht mehr richtig hin. Sie runzelte die Stirn und wandte sich an Eliza. Deren Gesicht war immer noch vollkommen starr. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn, und sie wirkte vollkommen verkrampft. Wenn sie
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