Optimum 1
schneide ich mir auch die Pulsadern auf«, knurrte Rica. »Bei uns zu Hause gab es mal einen Fall von Mobbing. Dem Mädchen hast du schon auf Kilometern entfernt angesehen, dass etwas nicht stimmte. Sie ist immer so geduckt herumgeschlichen, weißt du? Als wollte sie sich unsichtbar machen. Oder als wollte sie dem Feind keine Angriffsfläche bieten. Wenn man sie angesprochen hat, ist sie manchmal zusammengezuckt.« Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Jo war nicht so. Jo hat sich was getraut. Sie war vielleicht krank, ja, aber ganz bestimmt kein Mobbingopfer.«
Eliza sah sie lange und unergründlich an. In ihren Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck, als wälzte sie in ihrem Kopf ein Problem, von dem sie nicht wusste, ob sie es Rica anvertrauen konnte. Dann schließlich nickte sie langsam. »Nein, ich bin mir auch sicher, dass es kein Mobbing gab«, meinte sie. »Aber irgendwas war schon mit Jo, da hast du recht. Wahrscheinlich war es einfach etwas anderes, das sie in den Selbstmord getrieben hat.«
Rica starrte ihre Freundin an. Am unheimlichsten an dieser Aussage war, dass Eliza mit einer Selbstverständlichkeit sprach, als wisse sie, wovon sie rede. Als wäre Selbstmord etwas ganz Normales, eine logische Schlussfolgerung. Wieder stieg das Bild von Jo hinter der Musikhalle vor ihrem inneren Auge auf. Jo, die so gar nicht nach Jo aussah.
»Jo hat keinen Selbstmord begangen.« Ricas Stimme klang ein wenig lauter als beabsichtigt, und hier und dort drehten sich einige Schüler nach ihnen um.
Eliza kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Aber sie hat sich …«
»Ihre Pulsadern wurden aufgeschnitten, ja. Aber wer sagt, dass sie das selbst getan hat? Ich glaube, sie ist umgebracht worden. Und wer auch immer das getan hat – er wollte, dass wir alle an einen Selbstmord glauben.«
Sie senkte den Blick wieder auf den Flyer in ihrer Hand. »Jo hat sich nicht umgebracht«, wiederholte sie stur. »Und selbst wenn sie Probleme gehabt hat – die hier hätten ihr bestimmt nicht helfen können. Die haben doch keine Ahnung von gar nichts.«
Zu ihrer Überraschung nickte Eliza. Sie sah beinah erleichtert aus. »Du hast recht«, sagte sie leise. »Vielleicht hat Jo sich wirklich nicht selbst umgebracht. Aber wer hat es dann getan? Wird die Polizei denjenigen finden?«
»Die Polizei!« Rica schnaubte. »Ich glaube nicht, dass die sich trauen, etwas anderes zu sagen, als was ihnen die Schulleitung erlaubt. Hier können die sich doch alles leisten, was sie wollen. Genug Geld ist doch da, um alles zu vertuschen.«
»Aber wenn Jo wirklich umgebracht worden ist und niemand das nachprüft, dann …« Eliza ließ die Worte in der Luft schweben, doch Rica war klar, was sie sagen wollte. Sie hatte das Gleiche auch schon gedacht.
»Dann läuft hier immer noch ein Mörder frei herum«, vollendete sie den Satz. »Und wer weiß, was er vertuschen wollte. Wer weiß, wen er sich als Nächsten aussucht.« Gut, das war jetzt vielleicht ein bisschen dramatisch, aber sie hatte das Gefühl, dass es einer ordentlichen Portion Dramatik bedurfte, um Eliza in Gang zu setzen. Tatsächlich sah ihre Freundin jetzt erschrocken aus und warf einen Blick über die Schulter zurück, als erwarte sie, dass jeden Moment ein Mörder hinter ihrem Rücken auftauchen und ihr ein Messer in den Rücken stoßen würde. Doch hinter ihnen streckte sich nur noch mehr Rasen aus, übersät mit Schülern, die bunte Farbkleckse auf dem eintönigen Grün darstellten. Sie hatten den Nachmittag freibekommen, »um sich zu besinnen und Josefines zu gedenken«. Viel »Gedenken« war nicht zu erkennen. Die meisten Schüler schienen sich bereits von ihrem Schock erholt zu haben und fläzten sich jetzt mehr oder weniger entspannt in der Sonne herum.
Aber natürlich hatten die wenigsten von ihnen Jo richtig gut gekannt. Ihre Freunde und Bekannten hatten sich für ein Treffen im Café Pause verabredet, doch Rica und Eliza hatten sich noch nicht dort hingewagt. Viele von Jos Freunden waren in ihrem eigenen Alter, und die beiden wären sich zwischen den ganzen Oberstuflern seltsam vorgekommen.
»Wer, glaubst du, ist es gewesen?«, fragte Eliza. »Ein Schüler? Ein Lehrer?«
Rica überlegte. »Kann ich nicht sagen. Vielleicht auch jemand ganz anderes. Aber eins ist klar: Niemand hat Jo mehr gesehen, nachdem sie zu Frau Jansen abgeholt wurde. Robin und Frau Jansen sind die Letzten, die noch mit ihr gesprochen haben – angeblich. Wenn wir irgendwo mit Nachforschungen anfangen wollen,
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