Optimum 1
vielleicht doch nur geträumt hatte, wandte sie sich ab und lief in Richtung Trampelpfad.
Jemand musste kommen und sich um Jo kümmern. Irgendjemand. Jemand, der nicht sie war. Rica wollte nur noch eines: diese Verantwortung los sein und dann verschwinden. Irgendwohin, wo es keine Leichen und keine Fliegen gab.
Nach nur wenigen Schritten tauchte sie in den Schatten der Büsche und fühlte sich einen Augenblick lang beinah geborgen. Doch als ein Windhauch durch die Äste strich und den süßlichen Geruch wieder an Rica herantrug, hielt sie es nicht mehr aus. Sie sprintete los.
Zweige schlugen ihr ins Gesicht, Rosenranken griffen nach ihren Kleidern und rissen ihre Haut auf, aber Rica nahm die Schmerzen nur am Rande wahr. Ihr Herz jagte, ihr Atem ging stoßweise, und immer wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, die ihr die Sicht nahmen. Um sie herum waren nur die verschiedenen Schattierungen von verwaschenem Grün zu erkennen, ab und zu getupft mit ein paar roten Flecken.
Blut.
Rosenblüten, natürlich waren es Rosenblüten. Doch sie schienen sie zu verfolgen mit ihrem süßlichen Geruch, dem Geruch, der nur noch mehr Fliegen anlocken würde.
Rica stolperte. Mit rudernden Armen kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, wäre aber trotzdem gestürzt, wenn sie nicht zwei starke Arme aufgefangen hätten.
»Rica, was …«
Sie wusste nicht, wem die Stimme gehörte, brauchte es auch gar nicht zu wissen, sie ließ sich gegen den Menschen sinken, der da plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Es tat so gut, nicht mehr selbst stehen zu müssen. Verwirrt bemerkte Rica, dass ihre Wangen feucht waren, und ein heftiges Schluchzen ihren ganzen Körper schüttelte.
»Was ist denn los? Rica, um Himmels willen?« Ihr Retter schob sie auf Armeslänge von sich und rüttelte sie, nur ganz leicht, gerade so viel, dass ihre Sinne wieder zu ihr zurückkehrten. Durch den Schleier ihrer Tränen konnte sie ein Gesicht ausmachen, ein schmales, besorgtes Gesicht und hellbraunes Haar.
Robin. Sein Name war Robin.
»Rica!« Das Wort klang scharf, und Ricas Verwirrung schwand gerade so weit, dass sie einigermaßen klar denken konnte. »Was ist denn passiert?«
Rica atmete tief durch. Die Worte wollten gleichzeitig aus ihr heraussprudeln und in ihrer Kehle stecken bleiben. »Jo …« Sie konnte nicht weitersprechen. Stumm deutete sie hinter sich, auf den schmalen Pfad, den sie gerade entlanggekommen war.
Sie wusste nicht, ob Robin sie verstanden hatte. Jedenfalls legte er seine Arme um sie und zog sie zu sich heran. Rica fühlte die Wärme seines Körpers und bemerkte den leichten Geruch nach Waschmittel.
»Es ist gut«, murmelte Robin. Rica konnte seinen Atem in ihren Haaren kitzeln spüren. »Es ist gut, es passiert dir nichts.«
Sie wollte ihm so gern glauben. Sie wünschte sich wirklich nichts so sehr, als dass alles wieder in Ordnung kam.
»Jo ist tot«, flüsterte sie in Robins T-Shirt. Sie wusste nicht, ob er sie überhaupt gehört hatte, aber er hielt sie immer noch fest.
»Es kommt alles in Ordnung«, meinte er nur. »Alles in Ordnung. Dir passiert nichts. Dir wird nichts passieren.« Vorsichtig, als habe er Angst, dass sie zurückweichen könnte, schob er Rica ein Stück von sich weg, um sie anzusehen. »Ich bringe dich jetzt nach Hause. Okay?«
Rica wollte nicken. Sie wünschte sich, sie könnte sich einfach in ihrem Bett verkriechen und schlafen und morgen früh wieder aufwachen, um festzustellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Aber sie wusste, dass das nicht ging. Darum schüttelte sie den Kopf.
»Zur Schule«, flüsterte sie heiser. »Ich muss mit dem Rektor sprechen.«
Etwas huschte kurz über Robins Miene. Ein Anflug von Angst vielleicht oder Verwunderung. Doch er sagte nichts. Stattdessen nahm er Ricas Arm und führte sie langsam, aber bestimmt zur Schule zurück.
Kapitel acht
Verdächtigungen
Die Aula war gerammelt voll. Rica hatte gar nicht gewusst,dass es so viele Schüler an dem kleinen Internat gab. Aber es waren ja nicht nur Schüler, auch Eltern und Geschwister und der Dorfpfarrer mit seiner Familie hatten sich zu der Versammlung eingefunden. Es waren viel zu viele Leute für den kleinen Raum. Obwohl alle Fenster sperrangelweit offen standen, schwebte die Hitze wie eine Dunstglocke über der Menge und konnte nicht entkommen. Es roch nach Schweiß und Angst, und ein Gewirr aus den vielen Stimmen war zu einem ohrenbetäubenden Summen angeschwollen.
»Komm, ich glaube, da vorn ist noch Platz.«
Weitere Kostenlose Bücher