Optimum 1
waren ihr wohl nicht genug.
Rica gelang es endlich, die Augen zu schließen, doch das Bild wollte einfach nicht verschwinden. Die Fliegen, die den leblosen Körper umschwirrten. Die dunkle Lache unter Jos Körper. Die blutbefleckten Rosenblüten. Und der Geruch. Dieser süßliche, furchtbare Geruch, der in Ricas Kehle einen Würgereiz auslöste, dem sie aber nicht nachgeben konnte, nicht wollte. Wie ein verdorbener Hühnerbraten in einer Abfalltonne, dachte Rica und musste kichern. Sie wusste selbst nicht, warum. Hysterie?
Ohne es zu merken, setzten sich ihre Füße in Bewegung. Aber nicht den Pfad entlang zurück, sondern vorwärts, auf Jo zu. Brombeerranken kratzten über ihre Arme und Beine, weil sie sich nicht die Mühe machte, ihnen auszuweichen. Rica konnte es sich lebhaft vorstellen, wie sie eine Spur von winzigen Blutströpfchen auf dem warmen, weichen Gras zurückließ. Gut, dachte sie, wenn Jo schon geblutet hat, ist es nur gerecht, dass ich auch ein Opfer hinterlasse. O Jo, ich will mir das nicht ansehen.
Doch irgendetwas in ihr schien anderer Meinung zu sein. Ihre Beine bewegten sich wie automatisch, sie trat an das Amphitheater, den Blick erst fest auf die Rosenbüsche darum herum gerichtet. Nur auf die Rosen. Ihre Knie zitterten, und erst nach einer Ewigkeit wagte sie es, den Blick zu senken.
Das ist doch niemals Jo, war der erste klare Gedanke, den sie fassen konnte. Obwohl sie wusste, dass sie damit unrecht hatte, war sie einen Moment lang fast erleichtert. Das ist doch eine Fremde, die nur zufällig die gleichen Klamotten trägt. Vielleicht ist es auch gar keine Leiche. Vielleicht ist das hier … genau, ein Theaterrequisit. Irgendjemand hat sich einen hässlichen Scherz erlaubt und so ein Ding aus Kautschuk hergestellt. Eine grässliche Halloweendekoration.
Aber natürlich war es Jo.
Sie trug die gleichen Kleider wie am Tag des Kletterunfalls, jetzt ein wenig zerrissen und verschmutzt, als wäre sie durch den Dreck gekrochen. Oder als hätte sie sich durchs Unterholz hierher durchgekämpft, dachte Rica.
Aus der Nähe sah Jo nicht mehr so entspannt aus. Niemand hätte sie für eine Schlafende halten können. Rica glaubte zuerst, ihre Haut habe sich dunkel verfärbt, bevor sie bemerkte, dass es nur die Fliegen waren, die sie umschwärmten und über ihr Gesicht krabbelten. Rica starrte ihre Freundin an und wünschte sich, Jo würde die Hand heben, um die lästigen Besucher zu verscheuchen. Das konnte doch nicht angenehm sein. Die Fliegen waren überall, krochen in ihre Nasenlöcher, krabbelten über ihre offenen Augen. Als wäre Jos Haut schwarz und lebendig und würde sich in ständiger Bewegung befinden. Wie es sich wohl anfühlt, wenn einem Fliegen über die Augen laufen?
Rica versuchte, sich das vorzustellen, und plötzlich stieg die Übelkeit in ihr auf, die sie so lange zurückgehalten hatte. Abrupt drehte sie sich um, stolperte die wenigen Schritte zum nächsten Brombeerstrauch und krümmte sich dort zusammen. Heiße, bittere Galle stieg in ihr auf, brannte in ihrem Hals und ihrem Mund, während sie sich übergab. Tränen stiegen ihr in die Augen, sie wollte sie wegwischen, doch die Übelkeit war noch nicht vorbei, und sie fühlte sich nicht einmal in der Lage dazu, die Hand zu heben. Wieder und wieder würgte sie, spuckte, würgte und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch die Übelkeit ließ erst wieder ein wenig nach, als wirklich nichts mehr in ihr zu sein schien außer einer dünnen gelblichen Flüssigkeit.
Ich bin hohl, dachte Rica und richtete sich mit zitternden Knien auf. Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob ihre Beine sie überhaupt tragen würden oder ob sie gleich vornüberfiel in ihr eigenes Erbrochenes. Sie schwankte, griff haltsuchend nach dem Busch vor sich und bekam eine mehr als fingerdicke Brombeerranke zu fassen. Dornen bohrten sich in ihre Handfläche wie die Zähne eines bösartigen kleinen Tieres, und unwillkürlich schrie Rica auf. Der plötzliche Schmerz und die Reihe von blutigen Punkten auf ihrer Hand schienen sie endlich wieder in die Gegenwart zurückzuholen. Plötzlich fühlte sie sich hellwach und verängstigt.
Noch einmal drehte sie sich zu Jo um. An dem Bild hatte sich nichts geändert, noch immer war das Mädchen bedeckt von Fliegen und lag regungslos da. Aber Rica machte nicht den gleichen Fehler wie vorhin, zu lange hinzusehen. Nach diesem letzten, flüchtigen Blick, der beweisen sollte, dass sie sich nicht geirrt oder
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