Optimum 1
bisschen früh, um an Wettbewerbe zu denken, aber du bist ziemlich gut für eine Anfängerin, und wir könnten eigentlich bald so weit sein, dich richtig zu trainieren. Natürlich nur, wenn du magst.«
Rica spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und das lag nicht nur an dem breiten, offenen Lächeln, das er ihr schenkte. Sie sah sich auf einmal vor einer Jury klettern. Bei einem echten Wettbewerb. Ob es Medaillen oder Pokale gab? So etwas würde sicher auch ihrer Mutter gefallen, die sonst immer sagte, dass Ricas Hobbys zu nichts taugten.
Aber dann merkte sie, dass sie sich hatte ablenken lassen. So schön ein Gedanke an einen Kletterwettbewerb auch war, sie war wegen Jo hier. Heute jedenfalls. »Vielleicht«, antwortete sie deswegen ausweichend. »Aber wegen Jo … Wenn sie hier war, habt ihr dann auch manchmal über etwas anderes gesprochen? Über die Schule, oder über sonstige Probleme? Über andere Schüler?« Sie senkte den Blick wieder auf Odis braunschwarzes Fell, um Lars nicht ihre Verlegenheit zu zeigen. »Ich meine, ihr seid doch nicht einfach nur geklettert, oder?« Verdammt. In dem Moment, in dem die Worte heraus waren, wurde ihr bewusst, was sie da gerade gesagt hatte. Das klang ja so, als würde sie Lars ein Verhältnis mit Jo unterstellen, oder so etwas. »Sorry, so habe ich das nicht gemeint«, fügte sie deswegen rasch hinzu. »Ich kann mir nur vorstellen, dass sie hier vielleicht lockerer war als oben in der Schule. Ich meine, ist ja schon was anderes …« Sie merkte, dass sie sich nur noch mehr verhaspelte, und brach verlegen ab.
Lars schwieg einen Moment, und Rica dachte schon, dass sie ihn nun ernsthaft wütend gemacht hatte, doch als er antwortete, klang seine Stimme ganz ruhig und beinah ein wenig traurig. »Du hast ja gar nicht so unrecht«, meinte er. »Wenn man das so sagen kann, dann waren Jo und ich so etwas wie … Freunde.« Er lachte, aber es klang bitter. »Natürlich nicht so wie ihr, aber irgendwie … Ich glaube, sie vermisste einen Erwachsenen, mit dem sie reden konnte, und ich mochte ihre Art. Viele von den Schülern hier sind so abgehoben. Ich weiß, das klingt gemein und bitter, aber so denke ich nun mal.« Wieder lachte er. »Ich glaube, dir geht es ganz ähnlich, oder? Du gehörst hier ja auch nicht so recht hin, zwischen all die reichen und überbegabten Kinder. Ich komme mir manchmal richtig dumm vor, wenn ich mit ihnen rede, nur weil ich nichts von Quantenphysik verstehe, und vermutlich nie verstehen werde.«
Rica musste jetzt auch leise lachen. »Ich weiß nicht mal, was Quantenphysik ist«, erwiderte sie.
»Siehst du? Ich auch nicht.« Lars lachte mit. »Das fand ich so angenehm an Jo. Ich meine, sie gehörte eigentlich schon dazu, weißt du? Sie war eine von den ganz Schlauen. Und ihre Eltern sind unglaublich reich. Ja, sie hatte ein Stipendium für diese Schule, aber das hätte sie eigentlich gar nicht gebraucht. Ihre Eltern hätten sich das Schulgeld locker leisten können. Auch wenn sie es nicht wollten. Aber Jo war trotzdem so anders. So angenehm normal. Mit ihr konnte man reden, wenn du verstehst. Ich dachte immer, wenn ich eine Tochter hätte, müsste sie wie Jo sein.«
Rica nickte, aber sie konnte nicht anders, als Lars einen etwas verwunderten Seitenblick zuzuwerfen. Eine Tochter? Lars war noch gar nicht so alt. Vielleicht Anfang Dreißig oder so, jedenfalls nicht alt genug, um eine Tochter in Jos Alter zu haben. Im Gegenteil, er war fast so etwas wie ein weiterer Schüler, ein Mensch, der ihnen viel näher stand, als jeder Lehrer das konnte. War das wirklich das gewesen, was er für Jo empfunden hatte? Väterliche Zuneigung? Sie beobachtete, wie er sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht strich und nachdenklich in die Ferne blickte. Er war braun gebrannt, vermutlich, weil er sich so häufig draußen an der Kletterwand aufhielt, und er sah wirklich gut aus – für einen so alten Mann. Muskulös und durchtrainiert. Ob Jo auch so gedacht hatte? Rasch sah sie wieder zu Odi hinunter, bevor Lars noch ihre Gedanken an ihrem Gesicht ablesen konnte.
»Was meinst du damit, Jos Eltern wollten das Schulgeld nicht bezahlen?«, stürzte sie sich auf die erstbeste Information aus seiner Rede, die ihr einfiel.
Lars zuckte mit den Schultern. »Das hat sie mir mal erzählt, als wir … als wir mit dem Klettern fertig waren und einen Kaffee getrunken haben. Offensichtlich waren ihre Eltern nicht gerade begeistert von dem Gedanken, dass sie auf die
Weitere Kostenlose Bücher