Optimum 1
wie unhöflich es wohl aussah, wenn sie sich auf der Stelle umwandte und floh.
Doch da näherten sich Schritte, und eine freundlichere Stimme sagte: »Das kann ich gut verstehen, Rica, wir alle machen uns Gedanken.«
Rica atmete auf. Lars. Endlich.
Sie wagte es, den Kopf ein klein wenig zu heben und Lars einen hoffnungsvollen Blick unter halb gesenkten Lidern hervor zu schenken. »Kann ich also ein bisschen mit dir … mit euch reden?«
Andrea schnaubte. Ihre Miene drückte eindeutig aus, dass sie zu nichts weniger Lust hatte, als über Jo zu reden. »Ihr könnt beim nächsten Kletterkurs sprechen«, knurrte sie. »Wir sind schließlich keine Vertrauenslehrer und auch keine Therapeuten. Ich dachte, dafür habt ihr eure eigene Dame oben an der Schule.« So viel Feindseligkeit lag in Andreas Stimme, dass Rica überrascht aufsah. Hatte die Kletterlehrerin etwa auch etwas gegen Frau Jansen? Und warum?
Lars trat neben seine Frau und schlang ihr einen Arm um die Hüfte. Er zog Andrea ein Stück zu sich heran und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. »Lass sie doch. Jo fehlt uns allen, und sie war ja wirklich oft hier. Vielleicht kann ich Rica ein wenig von ihren Sorgen abnehmen, was meinst du? Da ist doch nichts Schlimmes dabei.«
Andrea verzog das Gesicht und machte einen Moment lang den Eindruck, als wolle sie sich aus der Umarmung winden, dann seufzte sie. »Ich muss wieder an die Arbeit«, gab sie halblaut nach. »Die Hühner müssen noch gefüttert werden.« Sie warf einen Blick zur Rückseite des Hauses, von wo Rica tatsächlich ein leises Gackern vernahm.
»Ihr habt Hühner hier?«, rutschte es ihr heraus, während Andrea sich von ihrem Mann löste.
Lars lachte. »Hühner, ein paar Gänse, zwei Hunde und ein halbes Dutzend wilde Katzen. Wir sind fast schon so was wie ein kleiner Bauernhof. Irgendwann werde ich mir Schafe zulegen.«
»Mit denen ich dann wieder den Ärger und die Arbeit habe.« Andrea hatte sich noch nicht vollkommen beruhigt. Allerdings versuchte sie ihren Worten durch ein schiefes Lächeln die Schärfe zu nehmen. »Bis gleich.«
Lars beobachtete, wie seine Frau um die Hausecke verschwand, dann wandte er sich wieder Rica zu. »Komm, setzen wir uns!« Er deutete auf eine der Holzbänke und folgte Rica, als sie hinüberging und sich darauf niederließ. Sobald sie saß, kam der Hund angetrippelt, legte seinen flauschigen Kopf auf Ricas Knie und sah mit großen braunen Augen zu ihr auf. Sie musste lachen und begann, ihn zwischen den Ohren zu kraulen.
»Odi ist eine alte Schmusebacke«, sagte Lars und lachte. »Jetzt hat er ein neues Opfer gefunden.«
»Odi?« Der Hund schnaufte begeistert, als Rica ihr Kraulen verstärkte.
»Odysseus«, antwortete Lars. »Er hatte mal einen anderen Namen, aber als er noch jung war, ist er uns ständig abgehauen und erst nach Stunden wiedergekommen. Da hatte er seinen Spitznamen weg. Und irgendwann war es eben kein Spitzname mehr, sondern sein richtiger Name.« Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Was willst du über Jo wissen?«
Rica tat so, als müsste sie sich ganz auf die Aufgabe konzentrieren, Odi zu kraulen. In Wirklichkeit suchte sie nach den richtigen Worten. Es hatte sich nach einem guten Plan angefühlt, mit Lars zu reden, als sie losgelaufen war, aber jetzt wusste sie nicht recht, was sie eigentlich fragen sollte.
»Jo war ein paarmal hier?«, fing sie zaghaft an.
Lars nickte. »Sie hat ein paar Extrakletterstunden bekommen«, ergänzte er unaufgefordert und deutete zu dem großen Raum hinter dem Tor. »Wir haben hier ein paar Wände, die man recht schnell umbauen kann. Außerdem ist man wetterunabhängig da drin.«
»Warum hat sie Extrastunden bekommen?«, wollte Rica wissen. »Ich meine, warum kriegen nicht alle so was? Du hast nie etwas davon gesagt, dass es die Möglichkeit gibt.« Sie konnte nicht verhindern, dass sich leichter Neid in ihre Stimme mischte. Sie sah von Odi zu Lars auf, und ihr war klar, dass Vorwurf in ihrem Blick lag.
»Ich biete es nicht allen Schülern an«, erklärte Lars. »Nur wenn ich den Eindruck habe, dass jemand besonders gut ist. Es gibt auch für Kletterrouten Wettbewerbe, weißt du? Und wenn ich den Eindruck habe, jemand ist gut genug, an einem solchen Wettbewerb teilzunehmen, dann frage ich schon einmal, ob wir ein paar zusätzliche Übungsstunden einlegen können.« Er lächelte. »Wenn ich es mir recht überlege, könnte das doch auch etwas für dich sein, oder? Es ist vielleicht noch ein
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