Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
brauchte. Wenn es sein musste, konnte sie einfach durch diese Leute durchmarschieren und ihnen allen suggerieren, dass sie sie nicht einmal sahen.
»Komm!«, wiederholte sie, ohne sich umzudrehen, und ging zielstrebig in Richtung Treppe. Auf der Wand des Treppenhauses konnte sie Schatten tanzen sehen. Jemand kam die Stufen herauf. Eliza schloss die Augen und konzentrierte sich. Es war ganz leicht. Noch nie war es ihr so leicht gefallen, den seltsam klaren Zustand hervorzurufen, in dem sie andere beeinflussen konnte. Ich werde zu einer Art Magier, dachte sie. Und ich fühle mich nicht einmal mehr schlecht dabei.
Der Mann auf der Treppe betrat den Absatz unter ihnen, sah die Stufen hinauf – und erstarrte. Seine Hand glitt unwillkürlich zu seinem Gürtel, an dem ein Funkgerät hing.
»Keine Angst. Wir wollen nur einen kleinen Nachtspaziergang machen«, meinte Eliza. Sie gab sich Mühe, Freundlichkeit auszustrahlen und sich selbst möglichst harmlos zu machen. Klein und unschuldig. Nichts, was man weiter beachten musste. Sie konnte Felix hinter sich atmen hören, es klang angestrengt. Sie fragte sich, ob er versuchte, sie zu unterstützen.
Der Wachmann blinzelte, dann schüttelte er den Kopf wie ein verwirrter Hund. »Einen Spaziergang?«, fragte er ungläubig, und warf einen Blick aus dem großen Fenster. »Es ist stockdunkel. Und kalt. Ihr werdet euch den Tod holen.«
»Wir bleiben nicht lange weg. Nur ein bisschen Luft schnappen, verstehen Sie?« Eliza lächelte gewinnend.
Der Wachmann kratzte sich am Kopf. »Okay«, sagte er schließlich. »Wenn ihr wieder reinkommt: Der Code zur Vordertür ist 29 7 466. Bleibt nicht zu lange weg.«
Eliza nickte und lächelte weiterhin charmant. Sie musste sich richtig anstrengen, einen Jubelschrei zu unterdrücken. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so einfach werden würde.
»Komm!«, sagte sie zum dritten Mal zu Felix, der immer noch keinen Ton von sich gegeben hatte, und gemeinsam liefen sie die Stufen hinunter. Unten angekommen merkten sie, dass sich die restlichen Wachleute offensichtlich bereits wieder im Gebäude verteilt hatten.
»Wohin jetzt«, flüsterte Felix.
Eliza hielt inne. Bisher hatte sie geplant, einfach ins Labor hinüberzulaufen und Rica zu befreien. Aber jetzt wurde ihr bewusst, dass das eine ziemlich blöde Idee war. Sie hatte keine Ahnung, wo Rica festgehalten wurde und welche Sicherheitsvorkehrungen vielleicht getroffen worden waren, um sie an der Flucht zu hindern. Menschen konnte sie ja beeinflussen, aber was war mit Alarmanlagen, oder vielleicht hatten sie ja auch Wachhunde.
Eliza sah sich um. Mehr durch Zufall, als dass sie danach gesucht hatte, entdeckte sie den Gang, in den die Schwester sie an ihrem ersten Tag hier geführt hatte. Der Gang, der zu Martens Büro führte.
»Es gibt hier jemanden, dem das Ganze auch nicht passt«, meinte sie. »Jemanden, der für das Institut arbeitet. Er kann uns bestimmt sagen, wo Rica ist.« Sie bemerkte, dass sie dem Gedanken, Marten zu vertrauen, plötzlich überhaupt nicht mehr ablehnend gegenüber stand. Jetzt war einfach der Zeitpunkt zum Handeln gekommen, das musste er auch einsehen.
»Ist das der, der den ganzen Widerstand organisiert?«, wollte Felix im Flüsterton wissen.
Eliza nickte, griff nach Felix’ Hand und zog ihn hinter sich her in den Gang hinein. Sie hoffte nur, dass Marten auch wirklich in seinem Büro war. Immerhin war es mitten in der Nacht. Aber nach dem ganzen Theater mit dem Alarm hatte sie zumindest eine gewisse Chance, dass er wach war. Und vielleicht arbeitete er selbst ja an einem Plan zu Ricas Befreiung.
»Herr Marten?« Eliza klopfte leise an die Tür. Von drinnen war kein Geräusch zu hören. Hinter Elizas Rücken atmete Felix nun noch lauter und schneller. Es klang fast so, als bekäme er gleich einen Anfall.
Eliza schob die Tür langsam auf. Der warme Geruch von Holzpolitur und Staub schlug ihr entgegen, und für einen Moment fühlte sie sich sicher und geborgen. Doch das war, bevor sie die Gestalt entdeckte, die über der Schreibtischplatte zusammengesunken war. Eliza konnte den Schopf weißer Haare erkennen, der im Rhythmus des zuckenden Körpers immer wieder auf die glänzende Schreibtischunterlage stieß.
Eliza stieß einen Schrei aus und rannte zum Schreibtisch. Sie packte den alten Mann und versuchte, ihn vom Tisch wegzuziehen, doch der er hatte eine erstaunliche Kraft. Marten schrie auf und schlug um sich. Fingernägel kratzten über Elizas Gesicht,
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