OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
irgendwie wahrgenommen – ja, jetzt erinnerte sich Amos: Er hatte ihn angeschaut und dabei irgendetwas in seinem melodischen Singsang ausgerufen – aber was nur?
»In jedem Geschöpf mischen sich die Geister auf einzigartige Weise, die sich niemals wiederholt«, begann Amos mit einem Mal zu murmeln. »Doch in einigen Menschengeschlechtern mischen sich gewisse Geister mit besonderer Vorliebe. So sind die großen Magiersippen entstanden, in denen die überlieferten Künste von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.« Benommen spähte er in sich hinein. Für einige Augenblicke hatte er jene Begegnung im Hain von Rogár wieder so lebhaft vor sich gesehen,als ob er gerade erst dort gewesen wäre – und als ob sein »ebenbildlicher Ahn« nicht auch nur über die Abgründe der Zeiten hinweg zu ihm gesprochen hätte.
Als er Klaras Blick spürte, schaute er auf. »Zwischen den Buchen von Rogár«, sagte er, »habe ich damals auch etliche Kinder gesehen, die dort irgendetwas gespielt haben. Und eines der kleinen Mädchen dort sah mir so ähnlich wie eine Zwillingsschwester, und einer der kleinen Knaben wiederum hatte deine Augen, Klara, und dein Haar.«
Verwirrt schaute er von ihr zu Trithemius. »Aber habt Ihr nicht eben gesagt, Herr«, fragte er, »dass es ein und derselbe Mann gewesen wäre – der Priester auf diesem Bild hier und der Priester, den ich durch Faust in Rogár gesehen habe? Wie soll das möglich sein? Was hier auf dem Gemälde abgebildet ist, muss sich vor tausend Jahren ereignet haben, wie Ihr eben sagtet. Jene andere Begebenheit aber, mit dem obersten Priester, der zu mir gesprochen hat, und den Kindern, die zu seinen Füßen spielten – das war ja sechs Jahrhunderte später, kurz bevor Rogár von den christlichen Rittern und Mönchen zerstört worden ist!«
»Und alle Priester und Wächter von Rogár getötet wurden – ganz recht«, bestätigte Trithemius. »Anders als es auf dem Bekehrungsgemälde in Bamberg dargestellt ist – ihr wisst es ja selbst.« Abwechselnd schaute er nun Amos und Klara so erwartungsvoll an, als ob er kaum glauben könnte, dass sie derart begriffsstutzig waren. »Aber versteht ihr denn immer noch nicht?«, rief er aus, und es klang, als ob uraltes Papier packenweise entzweigerissen würde. »Der Priester auf diesem Bild hier und der Priester, den du, Amos, in Rogár gesehen hast, sind alle beide dein ebenbildlicher Ahn! Obwohl zwischen beiden Ereignissen fast sechshundert Jahre liegen, ist es ein und derselbe oberste Zauberpriester von Rogár. So wie auch die Magierin, die vor rund tausend Jahren mit ihm von Rogár hierher gereist ist, sechshundert Jahre später noch immer an seiner Seite war – als ebenso mächtige oberste Priesterin von Rogár.«
Mit gerunzelter Stirn sah er abermals von Klara zu Amos. »Versteht ihr es jetzt? Ihre Körper waren natürlich genauso sterblich wie die unsrigen heute. Sie wurden geboren, wuchsen auf, lebten vierzig oder, wenn es gut ging, fünfzig oder sogar sechzig Jahre – und dann wurden auch ihre Leiber wieder zu Staub. Aber die Geister lebten in ihnen weiter, von einer Generation zur nächsten, und so über Hunderte von Jahren. Stellt euch nur vor«, sagte Trithemius, »die mächtigsten Geister aller Zeiten haben sich in euren ebenbildlichen Ahnen zusammengefunden – und so sind die mächtigsten Magiersippen entstanden, die jemals in diesem Land gelebt haben. Und nur deshalb, meine Lieben«, fuhr er fort, »hat Bischof Otto damals im Jahr 1089 A.D. seinen Ordensrittern befohlen, die letzten Heidenpriester von Rogár zu töten – weil er wusste, dass er einzig auf diese Weise die Macht der Geister brechen konnte.« Er legte Amos eine Hand auf die Schulter. »Verstehst du jetzt?«, wiederholte er und sah ihn mit erwartungsvollem Lächeln an.
»Noch nicht so ganz, Herr.« Amos wechselte einen raschen Blick mit Klara. »Ihr wollt sagen, wir beide stammen von den Priestern von Rogár ab und unsere Vorfahren waren von mächtigen Geistern besessen – und darauf beruhte ihre eigene Macht als Zauberpriester?«
»Nicht besessen.« Trithemius schüttelte in mildem Tadel den Kopf. »Sagen wir lieber: illuminiert – oder erleuchtet, wenn ihr den deutschen Ausdruck vorzieht. Wir gewöhnlichen Menschen ähneln dunklen Häusern, in denen bloß ein einziges kümmerliches Licht glimmt. Stellt euch dagegen ein Schloss mit unzähligen Fenstern vor – und sämtliche Säle und Kammern sind mit Lampen und Laternen strahlend
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