OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
des Wanderers. Die Angreifer waren ungelenk gemalt, und die Hand des Mannes, mit der er seinen Stock umklammert hielt, war viel zu groß geraten. Aber für diese künstlerischen Mängel hatte auch Amos in diesem Moment kaum einen Blick. »Einen solchen Schutzzauber hätten wir gut gebrauchen können«, sagte er, »mehr oder weniger an jedem einzelnen Tag, seit die Purpurkrieger Kronus’ Haus angezündet haben.«
»Ihr könnt ihn besitzen«, antwortete der Abt, »diesen und weitere, noch sehr viel mächtigere Zauber – die Entscheidung liegt einzig bei euch.«
»Welche Entscheidung denn?«, fragte Klara. Sie hatte noch immer dieses strahlende Lächeln im Gesicht und ihre Augen leuchteten so grün wie der Buchenhain von Rogár.
Trithemius machte einige weitere Schritte in das unterirdische Felsgelass hinein. »Die Geister haben euch auserwählt«, sagte er, »aber es liegt bei euch, ob ihr euch von ihnen erleuchten lassen wollt.«
Die Geister?, dachte Amos. Was sollte das denn schon wieder bedeuten? Bisher hatte es doch immer geheißen, dass sie vom Opus Spiritus auserwählt worden seien, um
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in Sicherheit zu bringen und seine magische Wirkung zu erproben.Aber auserwählt von den Geistern selbst? Konnte das überhaupt sein?
Trithemius blieb vor einem weiteren Wandgemälde stehen. Der Qualm von den Fackeln war hier so dicht, dass er ihnen in die Augen biss. Doch was die Zeichnung darstellen sollte, war klar und deutlich zu erkennen.
Ein hochgewachsenes Priesterpaar, in kostbare Roben gewandet, schritt eine breite Treppe hinauf. Auf jeder Stufe knieten links und rechts Menschen, die meisten ärmlich gekleidet und von knochiger Gestalt. Es mussten Hunderte sein und sie alle streckten mit flehenden Gebärden und verzückten Gesichtern ihre Hände zu dem Priesterpaar hin. Oben, wo die Treppe endete, ragte ein Bauwerk auf, aus Felsplatten kühn aufgetürmt. Vor dem Eingang kniete ein weiterer Priester und schaute den Emporschreitenden entgegen. Er war ebenso gekleidet wie das Priesterpaar, aber seine Haltung und sein unterwürfiger Gesichtsausdruck zeigten, dass er weit weniger mächtig war als sie. Und diese beiden, Mann und Frau, die mit entrückten Gesichtern durch die Menge wandelten – sie sahen ganz genauso aus, wie Amos und Klara in vielleicht zwanzig Jahren aussehen würden. Oder zumindest so, wie ein nicht allzu kunstfertiger Maler sie darstellen würde. Der Zauberpriester auf dem Wandbild hatte schwarzes, lockiges Haar wie Amos, nur ein wenig lichter. Seine Gestalt war immer noch schlaksig, nur um Augen und Mund hatten sich ein paar Falten in seine Haut gekerbt. Und die Magierin an seiner Seite war grünäugig wie Klara, ihre Haut mondbleich, und wie flüssiges Sternenlicht strömten ihre Haare über Schultern und Rücken hinab.
»Es sind die obersten Priester von Rogár«, sagte Trithemius, »eure ebenbildlichen Ahnen. Der Besuch, der auf diesem Gemälde festgehalten ist, muss vor fast tausend Jahren stattgefunden haben. Damals hat hier auf dem Hügel, wo sich heute das Kloster befindet, dieser Heidentempel gestanden.« Er deutete auf das gewaltige Felsbauwerk, das über der gemalten Treppe in denHimmel aufzuragen schien. Die gesamte Tempelfassade war mit Schriftzeichen bedeckt, von denen Amos einige wiedererkannte. Eines sah aus wie ein allzu eckig geratenes R, ein anderes wie ein gewöhnliches X, ein weiteres ähnelte dem großen F, wobei die Querbalken allerdings nicht waagrecht verliefen, sondern schräg emporragten wie winkende Arme.
»Die obersten Priester von Rogár«, fuhr Trithemius fort, »waren die mächtigsten Zauberpriester in dem ganzen weiten Landstrich, der später den Namen Franken bekam.« Er schaute Amos an. »Du bist deinem ebenbildlichen Ahn ja schon einmal begegnet – du erinnerst dich doch daran?«
Amos nickte und im gleichen Moment packte ihn ein heftiger Schauder. »Wie könnte ich das je vergessen?«, sagte er. Er nickte noch immer, doch jetzt war es ein krampfhaftes Zittern. »Das war während der magischen Reise, auf die Faust mich damals in Bamberg geschickt hat.«
»Dann erinnerst du dich auch noch, was der Priester von Rogár damals zu dir gesagt hat – dein ebenbildlicher Ahn?« Trithemius sah ihn erwartungsvoll an.
Amos lauschte in sich hinein. Hatte der Priester ihn damals tatsächlich angesprochen? Aber er selbst war dort doch nur ein Schatten gewesen, durch Fausts magische Macht zurückgerissen in fernste Vergangenheit. Und trotzdem hatte der Priester ihn
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