OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
floss er im Gestein weiter aufwärts. Wären nicht die Crutsmare gleich wieder zur Stelle gewesen, um ihn zu begleiten und seinen Weg grünlich auszuleuchten, so hätte sich Laurentius im finsteren Fels wohl hoffnungslos verirrt. »Bringt mich zum Palas«, bat er sie. »Aber ich will nur von außen hineinsehen.« Oder vielmehr von innen, nämlich vom Felsgestein aus, durch das er ja mittlerweile hindurchsehen konnte wie durch trübes Fensterglas, wenn er nur nicht zu tief im Gestein steckte. Aber die Crutsmare hatten ihn schon richtig verstanden – für sie war ja außen, was fürgewöhnliche Luft- und Landbewohner innen war, und umgekehrt.
Nicht lange darauf fand sich Laurentius in der Hinterwand des großen Saals ganz unten im Palas wieder. Dieser Wohnturm war der älteste Teil von Burg Answer und gleichfalls in den felsigen Untergrund hineingebaut, wie im Wappen der Edlen von Answer verewigt.
Durch die vielerlei haarfeinen Risse und Poren im Gestein konnte Laurentius deutlich genug erkennen, was sich da drinnen im Saal abspielte. Ein groß gewachsener Mann, gehüllt in ein kostbares Gewand, thronte am Ende einer langen Tafel. Er ließ sich die Speisen und Getränke schmecken, die vor ihm in silbernen Schalen und kristallenen Kelchen bereitstanden. Und dieser Mann sah ganz genauso aus wie Laurenz’ eigener Vater – oder vielmehr, so wie der stolze Herr von Answer einmal ausgesehen hatte, so selbstgewiss, gesund und kräftig, ehe ihm sein Besitztum entrissen und er in seinen eigenen Kerker geworfen worden war.
Und das alles war ganz und gar rätselhaft, denn zur Rechten des Mannes nahm gerade eben der Jüngling Platz, der vorhin den Napf voll Wassersuppe gebracht hatte. Und diese beiden sahen ganz und gar wie Doppelgänger, wie Zwillingsbrüder, wie Spiegelbilder von Laurenz’ Vater und von ihm selbst aus – nur ihre Augen waren anders, glimmend gelb und sichelschmal. Und zur Linken des Mannes, der zweifelsohne der jetzige Herr von Answer war …
Laurentius konnte kaum hinsehen und noch viel weniger seinen Blick abwenden.
Dort nämlich saß eine Frau in mittleren Jahren, mit kummervoller Miene, wie versteinert vor Gram. Sie war einst wunderschön gewesen, und obwohl das beginnende Alter und der immerwährende Kummer vielerlei Falten in ihr Gesicht gegraben hatten, war sie immer noch schön. Es war niemand anderes als Laurenz’ Mutter, und auch die junge Frau an ihrerSeite hatte er auf der Stelle wiedererkannt. Obwohl auch sie viel älter als in seiner Erinnerung war, kein Mädchen mehr, sondern längst eine junge Frau.
Doch nun hielt es Laurenz nicht länger aus. Er stieß sich eine Faust in den Mund, um nicht zu schreien – so laut zu schreien und zu brüllen und zu heulen, dass es sogar durch den Fels gegellt und den Tafelnden da draußen oder drinnen in die Ohren gefahren wäre. Er biss sich auf seine Fingerknöchel und spürte den Schmerz und die klebrige Wärme seines eigenen Blutes auf den Lippen, aber das alles half überhaupt nichts gegen das Grauen, den Zorn, den Hass, die in seinem Innern rasten.
Dort neben der Mutter saß Gisa, seine Schwester, und sie war nicht tot, wie er immer geglaubt hatte, so wenig wie die Mutter tot war. Sie beide waren am Leben, wie erstarrt vor Kummer und Schmerzen, sonst aber offenbar frei und gesund. Wie in früheren, glücklichen Zeiten lebten sie auf Burg Answer, die eine mit ihrem Mann und ihrem Sohn, die andere mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Und diese beiden Männer glichen Laurenz und seinem Vater bis aufs Haar – nur dass Wolfslichter in ihren Gesichtern glommen, gelb und sichelschmal.
»Bringt mich zurück zum Jagdschloss«, bat Laurenz die Crutsmare. Seine Stimme hörte sich in seinen eigenen Ohren an, als ob er gewürgt würde. Und genauso fühlte er sich auch. Er hätte es nicht ertragen, auch nur einen einzigen weiteren Blick auf die schauerliche Verwirrung zu werfen, auf den falschen Vater, den falschen Laurenz, auf seine Mutter und auf Gisa, die seit Jahr und Tag mit diesen Tierleuten lebten. Oder auf die zwei oder gar drei Dutzend wolfsäugiger Männer, die auf langen Bänken am hinteren Teil der Tafel saßen und sich mit bloßen Händen in die Mäuler stopften, was vor ihnen auf hölzernen Platten aufgehäuft lag. Knochen, von denen das Fell noch in Fetzen herabhing, blutig rohes Fleisch.
Der Abend dämmerte bereits, als Laurentius aus der kleinen Tür unter dem Jagdkastell trat. Auf dem Rückweg hierher, durch Fels und Geröll, hatte er
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