Orangenmond
versteckte ihr Gesicht in ihrem schwarzen Paschminaschal, den sie im Flugzeug immer gegen die kalte Luft dabeihatte. Kalte Luft! Nicht gegen giftigen Rauch! Ihr war schwummrig im Kopf. Was hatte die Stewardess gesagt? Sofort nach Bari zurück? Das würden sie gar nicht mehr schaffen, sie würden alle vorher ohnmächtig, Scheiße. Eva fiel das Flugzeug über Griechenland ein, in dem die Passagiere und die bewusstlosen Piloten noch lange umhergeflogen waren, bis die Maschine schließlich abstürzte. So fühlte sich das also an. Sie wollte leben, sie wollte Kinder, sie wollte Emil aufwachsen sehen, wollte Georg und Helga wiedersehen, sogar ihre Eltern! Sie liebte sie alle. Tat. Ti amo tanto .
Das Flugzeug kippte bedenklich nach rechts. Flieg deine Kurve schneller, aber stürz jetzt nicht ab! Ich liebe das Leben, ich liebe es, in den Straßen von Rom geküsst zu werden und nackt zu schwimmen, liebe es, draußen zu sein, den Wind in den silbrig grünen Blättern der Olivenbäume rascheln zu hören, über die rote Erde zu laufen, und wie! Ich liebe Hamburg, den Hafen, Bötchen fahren auf der Alster, meine Wohnung. Ich will mich verlieben, ich will mich nicht mehr zurückhalten. Wenn ich hier jemals herauskomme, lebend runterkomme, dann …! Dann werde ich nicht mehr so kompliziert denken, sondern einfach machen. Werde nie mehr ängstlich sein. Um was mache ich mir denn immer Sorgen? Das Leben ist so verdammt schön und kostbar!
Sie weinte leise in ihr Tuch. Ihre Nachbarin nahm ihre Hand und streichelte sie. »Ich glaube, es wird schon weniger, schauen Sie mal!«
Eva blickte hoch und schniefte. Die Luft war wirklich schon ein wenig klarer, oder bildete sie sich das nur ein, weil sie es sich so sehr wünschte?
Zwei Minuten später setzten die Räder wieder auf, wurde hart gebremst. Sie waren gerettet! Die Luft fast rauchfrei. Begeistertes Schnattern der Fluggäste, Eva zog ihr Tuch wieder über das Gesicht. Sie weinte und weinte, es schüttelte sie, es strömte so heftig aus ihr heraus, als ob sie da oben zwischen Himmel und Erde noch lange nicht fertig geweint hätte.
»Ja, meine Damen und Herren«, meldete sich jetzt der Kapitän, »ein herzliches Willkommen zurück in Bari!« Alle klatschten wie besessen, auch Eva unter ihrem Tuch, bis ihr die Hände wehtaten.
Der Kapitän erklärte ihnen, dass wahrscheinlich nur ein wenig Staub in der Klimaanlage verpufft sei, bedingt durch die hohen Außentemperaturen könne das schon einmal vorkommen. Sie würden jetzt einen Techniker kommen lassen, der die Ursache und das System noch einmal genau überprüfen werde.
»Wer möchte, kann natürlich aussteigen. Wir aber, und da sollten Sie uns vertrauen, werden Sie sicher mit dieser Maschine nach Hamburg zurückfliegen!« Dann erzählte er alles noch mal auf Englisch.
Weiterfliegen? Niemals. Eva stand auf und quetschte sich mit ihrem verheulten Gesicht an der Dame vorbei, die sie so lieb getröstet hatte.
Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis eine fahrbare Treppe am Flugzeug andockte, und eine weitere halbe Stunde, bis ihr Gepäck ausgeladen war. Zusammen mit ihr verließ nur noch ein schwules Pärchen die Maschine. »Siehst du, das nennt man Schicksal«, kicherte der eine nervös auf Deutsch seinem italienischen Freund zu. »Jetzt musst du mich doch deiner Mutter in Foggia vorstellen!«
Eva lachte, schaltete ihr Handy an und schrieb mit kribbelndem Bauch eine SMS. Habe alles sortiert. Ich ziehe für dich überall hin. Denn du bist einmalig!
Und wenn Jannis sie nun nicht mehr wollte? Nach ihrer SMS am Tag zuvor hatte er sich nicht mehr gemeldet. Egal, sie musste es versuchen!
Der Bus nach Ostuni-Centro fuhr gerade in dem Moment vor, als Eva den Bahnhof verließ.
»Benvenuto, signorina!«, rief der Busfahrer. Vielen Dank, ich fühle mich sehr willkommen, ich liebe diese Welt, selbst den staubigen Vorplatz voller ausgetrockneter Pfützen löcher … Sie grinste dem Mann fröhlich zu und stieg in den Bus. Auch einen Motorroller in Ostuni zu leihen, erwies sich als außergewöhnlich einfach. Kein Problem, den Laden mithilfe der Beschreibung auf der Internetseite zu finden. Sogar die Öffnungszeiten stimmten, und die Jungs waren so nett und zurrten ihren Koffer mit zwei Gummilitzen auf der Sitzbank fest.
Es war herrlich, mit dem Roller die Kurven auf der Landstraße zu nehmen, die Luft wechselte zwischen warm und etwas kühler, je nachdem, ob sie an Olivenbäumen entlangfuhr oder durch freies Feld. Der Himmel war rot, die
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