Orangentage
hatte Dareks Klasse mit dem Englischlehrer einen Ausflug hierher gemacht. Sie wollten bis zum GroÃen Talkessel gehen, kamen aber nur bis zu dieser Stelle. Ein Stück weiter fanden sie eine tote Gämse. Sie lag auf dem Boden, die Beine unter dem Körper, die Nase in die Erde gebohrt, so wie sie vom Felsvorsprung gefallen war. Als sie sich näherten, erblickten sie eine Wunde am Hals. Rundherum war überall Blut. Der Lehrer meinte, dass jemand die Gämse erschossen habe. Sie warteten bei dem getöteten Tier, bis die Förster kamen. Keinem war nach Reden zumute, niemand hatte mehr Lust auf einen Ausflug. Darek fasste die Gämse heimlich an, obwohl es der Lehrer verboten hatte. Es kam ihm vor, als fühlte er unter dem rauen Fell noch den geduckten Atem, der jeden Augenblick wieder strömen könnte. Es war reine Einbildung. Die Linie zwischen Leben und Tod war dünn, konnte aber nur in einer Richtung überschritten werden. Die Fliegen wussten es â sie kamen schon zum Festmahl angeflogen. In Kürze hatte sich über der Gämse eine ganze Wolke davon gebildet.
Auch jetzt waren sie hier. Sie schwirrten auf steilen Flugbahnen durch die Luft, manchmal landete die eine oder andere auf dem Wasserspiegel. Der Bach floss über die Steine herab, und als Darek sich darüber beugte, sah er unzählige Luftblasen im Strom tanzen. Er hielt die Handflächen zusammen, schöpfte das unruhige Wasser und trank. Zum letzten Mal hatte er in Krnow auf dem Bahnhof getrunken, er fühlte sich ziemlich ausgedörrt. Das Wasser war kalt, beim Hinunterschlucken biss es im Hals, und als er sich aufrichtete und seinen Weg fortsetzte, blieb in seinen Geschmackskelchen ein leichtes Tannennadelaroma.
Vom nächsten Bergkamm aus konnte er schon die Bahnstrecke sehen. Dahinter erhob sich der Schieferberg. In seiner überwiegend grauen Färbung leuchteten die roten Farbtupfer von Hagebutte und Vogelbeere. Sie signalisierten das Ende des Sommers. In ein paar Tagen würde sich das Schultor öffnen und alles würde einen anderen Rahmen bekommen. Einen engen, kantigen, beschränkenden Rahmen. »Was stört euch an der Schule? Was würdet ihr gerne machen, wenn ihr erwachsen seid? Wie stellt ihr euch die Zukunft vor?«, hatte die Gemeinschaftskundelehrerin kurz vor der Zeugnisausgabe gefragt und als Thema für einen Aufsatz an die Tafel geschrieben. »Was wollt ihr im Leben erreichen?«
Sie hatten überhaupt keine Lust zum Schreiben gehabt. Warum über die Zukunft sinnieren, wenn hinter dem Fenster die Sonne schien, der Wald roch und man jetzt gleich, nicht erst in der Zukunft, eine Menge aufregende Dinge erleben konnte! Darek hatte schlieÃlich zwei Seiten ungesüÃten, ungewürzten Text über seine Pläne zusammengeschmiert. Er hatte geschrieben, dass er gern genug Geld hätte, um gute Pferde kaufen und sich einen Rennstall einrichten zu können. Er hatte aufgezählt, wie viele Mitarbeiter er haben müsste, welche Pferderassen er halten wollte und an welchen Wettrennen seine Pferde teilnehmen würden. Er hatte über Dressur, über Pferdepflege, über Sieg und Erfolg geschrieben. Es wird deutlich, dass du eine klare Vision von deiner Zukunft hast, hatte die Lehrerin lobend daruntergeschrieben und ihm eine Eins gegeben.
Als er sich nun über die Hügel der heimischen Weide näherte, musste er unwillkürlich an den Aufsatz denken. Es war ein Haufen Lügen gewesen, um seine Lehrerin zu beeindrucken. Hätte er seine wahrhaftigen Zukunftserwartungen ausdrücken wollen, wäre das Blatt leer geblieben. In Wahrheit war er auf kein spezielles Ziel fixiert. Natürlich weckten Medaillen Begierde â aber was hatte man davon? Nach jedem Wettrennen stellte sich der Alltag wieder ein. Das Pferd musste verschnaufen und getränkt werden, zur Normalität zurückkehren. Die meisten Pferde waren am glücklichsten, wenn sie bis zu den Knien im Gras standen und eine Brise über der Wiese wehte. Wenn niemand sie sattelte, niemand ihnen ein Gebiss einlegte, niemand sie antrieb und zu Leistung zwang. Wenn sie einfach nur da sein konnten. Sie wollten kaum etwas anderes. Nur wir Menschen meckern immer, dachte Darek. Wir wollen immer etwas, was wir nicht haben. Ihm kam in den Sinn, dass Unzufriedenheit möglicherweise die typischste aller menschlichen Eigenschaften sei. Doch wir nennen das Ehrgeiz und finden das gut. Auch die
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